[Foto: Christian Pichler, Ottensheim]
„‛Die Donau‛“, sagte ich zu dem alten Mann mit der charakteristischen Nase und dem schmalen Kinnbärtchen, der sich mit zwei etwas jüngeren Männern an meinen Tisch in meinem Stammcafé gesetzt hatte, „‛Die Donau‛ von Claudio Magris, die müssen Sie lesen.“
Er hatte mich höflich gefragt, ob sie an meinem Tisch Platz nehmen dürften. Ich hatte nur genickt und in meiner Zeitung weiter gelesen, doch immer wieder Bruchstücke des Gesprächs der drei Männer aufgeschnappt. Eigentlich war es kein Gespräch, sondern der alte Mann unterhielt die beiden anderen mit Anekdoten aus seinem Leben. Er erzählte von einem Buch über die Geschichte der Donau, das er plante und zu dem er seit geraumer Zeit Material sammelte.
Ich hatte meinen Kaffee längst ausgetrunken und hinter meiner Zeitung verschanzt seinen Erzählungen zugehört. Von den Fischen und den Menschen erzählte er, von den Überschwemmungen und von weniger dramatischen Ereignissen, die sich für ihn mit dem Fluss und seinem eigenen Leben verbanden. Von seiner Liebe zum Wasser, zum Meer und zum Fluss.
Ich hatte bezahlt und war aufgestanden, doch ich musste während des belauschten Gesprächs an jenen Roman denken, den ich vor etlichen Jahren als Vorbereitung auf eine Reise zum Ursprung der Donau gelesen hatte.
„‛Die Donau‛ von Claudio Magris. Die müssen Sie lesen“, wiederholte ich. Da griff der alte Mann in einen Plastiksack, den er über die Stuhllehne gehängt hatte, und zog das Buch von Claudio Magris heraus. Das hätte er sich gerade besorgt und wäre schon gespannt, was er darin für sein Projekt fände. Wir lachten über diesen Zufall, wechselten noch ein paar Worte, und dass er einmal mit mir über das Buch und sein Donau-Projekt sprechen möchte.
Seit diesem Tag – es muss vor mehr als zwei Jahren gewesen sein – hatte er sich immer wieder allein oder in Begleitung der beiden Männer an meinen Tisch gesetzt, und auch ich setzte mich, wenn der Schanigarten des Cafés wieder einmal überfüllt war, an seinen oder ihren Tisch. Manchmal wurde ich in die Gespräche einbezogen und ich erfuhr vieles über ihn und sein Leben. Wir diskutierten über Sonnenblumen und ihre Tendenz, sich nach der Sonne zu orientieren, über längst vergangene Zeiten, als die Donau noch regelmäßig in Linz über die Ufer trat. Vor allem über die Donau.
Wenn er allein an meinem Tisch saß, erzählte er mir von seinem Leben als Kriegsberichterstatter, durch das er als leidenschaftlicher Fotograf eher unfreiwillig gekommen war. Von seinem Leben als Fotograf in der Lokalredaktion einer hiesigen Zeitung. Von Fotobüchern, die er geplant hatte und nur unter großen Schwierigkeiten realisieren konnte. Immer wieder berichtete er sichtlich stolz von jenen Bildern, die auch international Beachtung gefunden hatten. Sein Lieblingsthema war aber ein Fotobuch, das er vor etlichen Jahren gemeinsam mit einem für seine scharfzüngigen Glossen und Kommentare bekannten Kolumnisten veröffentlicht hatte. Immer wieder beschrieb er mir einzelne Bilder daraus. Da es vergriffen wäre, würde er es mir zum Lesen mitbringen, versprach er immer wieder.
Das war vor über einem Jahr gewesen. Seither hatten wir uns beinahe regelmäßig im Café gesehen, waren an benachbarten Tischen gesessen oder auch gemeinsam an einem. Und alle unsere Begegnungen endeten seither damit, dass er sich entschuldigte, dass er wieder einmal auf das Buch vergessen hätte. Aber beim nächsten Mal würde er es bestimmt mitbringen.
Am letzten Freitag – er saß mit seinen Freunden im Schanigarten, während ich es wegen des Windes vorzog, im Lokal Platz zu nehmen -, bedeutete er mir beim begrüßenden Vorbeigehen, dass er nach meinem Mittagessen zu mir käme.
Ich war schon beim Kaffee, als er sich an meinen Tisch setzte und ein Bier bestellte. Nach dem ersten Schluck griff er in den Plastiksack, den er wie immer neben einem Schirm mit sich geführt hatte, und überreichte mir das versprochene Buch.
Über eine Stunde berichtete er von den Anlässen, bei denen einzelne Bilder entstanden waren, von den widrigen Umständen, von den Zufällen und seltenen Gelegenheiten. Er erzählte von seinem Leben als Fotograf in der Zeit nach dem Weltkrieg. Wir sprachen über gemeinsame Interessen und Bekannte, die wir im Laufe unserer Gespräche entdeckt hatten. Wie man im Leben vom Schicksal oder Zufall in eine Richtung gelenkt wird. Vor allem aber sprachen wir über das Fotografieren, von jenen seltenen Augenblicken im Leben, in denen es etwas zu entdecken gilt, das es wert ist, mit der Kamera für immer festgehalten zu werden.
„Für Werner Stangl, Linz, 1. VI. 2012. In interessanten Gesprächen über Fotografie dankbar Ihr K. Aigner“, schrieb er mir beim Abschied als Widmung in das Buch. Kurt Aigner starb in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 2012 im Alter von 88 Jahren.
Schreibe einen Kommentar