Zwei Tage nach Weihnachten. Eine Nebenstrecke ins Nirgendwo. Der Zug schien leer. Es war dunkel. Draußen vor den Fenstern wirbelte Schnee im Licht, das aus dem Abteil fiel – ziellos, wie getrieben.
Er saß allein in der grauen Uniform eines Grundwehrdieners. Der Kragen stand steif am Hals, das Gewebe rau. Über ihm in der Ablage ein ausgeblichener grüngefleckter Rucksack. Nicht viel darin. Ein Rasierer, ein Handtuch, Unterwäsche, ein zweites Hemd, drei Paar Socken. Und die Worte seiner Mutter: „Pass auf dich auf!“ Sie war auch gegenwärtig im Geruch eines Waschmittels, der allem anhing.
Vor ihm lag die Fahrt zur neuen Garnison. Widerhallende Betonhöfe, einfache Schlafräume, überraschende Frühappelle.
Das Fenster des Abteils begann schon kurz nach der Abfahrt zu beschlagen, die Heizung schien zu arbeiten, aber kaum spürbar.
War schon eine Viertelstunde vergangen? Der Zug bremste. Ein Ruck, ein langgezogenes Pfeifen. Stillstand. Keine Station.
Irgendwann kam der Schaffner: Unfall auf der Strecke, unbestimmte Verspätung.
Er blieb einen Moment sitzen, dann stand er auf, ließ den Rucksack liegen, trat hinaus in den Seitengang. Nicht aus Unruhe. Nur, damit er sich bewegte, wenn alles stand.
Da sah er sie. Die Tür zum Nebenabteil stand offen. Sie saß allein, das Gesicht zum Fenster gewandt. Ein Buch lag in ihrem Schoß, aufgeschlagen, von ihrem Blick verlassen.
Er schlenderte zum Ende des Waggons und wieder zurück. Alle anderen Abteile waren leer.
Als er zum dritten Mal an ihrem Abteil vorbei kam, blickte sie auf. Kein Lächeln, nur ein Blick.
„Wenn Sie wollen“, sagte sie, „können Sie sich zu mir setzen.“
Er nickte wie dankend und holte den Rucksack aus seinem Abteil, verstaute ihn in der Ablage und ließ sich ihr gegenüber nieder. Sie war wohl einige Jahre älter als er.
In die Stille hinein fragte sie: „Wohin fahren Sie?“
„In die neue Garnison“, sagte er, und nannte den Namen.
„Die kenne ich“, sagte sie. „Das ist das Ende der Welt.“
Er nickte. „Es sind meine letzten sechs Monate.“
Sie saßen eine Weile schweigend. Der Stillstand des Zuges war hörbar.
Unvermittelt und beinahe bedächtig begann er zu erzählen, woher er kommt, wie er bisher gelebt hat, dass er nach dem Wehrdienst ein Studium plane. Ziemlich sicher Literaturwissenschaft. Etwas mit Sprache. In seiner Kindheit habe er geträumt, Schriftsteller zu werden. Ein richtiger Dichter sogar. Es war ihm, als müsse er ihr ein Bild von sich zeichnen – eines, das sich vom Grau seiner Uniform abhebt.
Sie sah ihn während seiner Erzählung an, nickte manchmal, auch ein Lächeln.
„Sie haben Pläne“, sagte sie.
Er nickte. War es eine Frage oder eine Feststellung?
„Ich wollte Tänzerin werden“, setzte sie unvermittelt fort. „Dann Buchhändlerin“.
Sie machte eine Pause, wie um in sich hineinzuhören.
„Dann gar nichts mehr“, sagte sie. Ihre Stimme klang ruhig.
Es drängte ihn, die Resignation des letzten Satzes zu unterbrechen. Doch er fand keine Worte.
„Ich hab Bücher gesammelt. In Schuhkartons. Heimlich gelesen, nachts.“
Sie lächelte kaum merklich. Und setzte fort: „Ich habe einmal einen Sommer lang Briefe geschrieben. An Städte. An Menschen, die es nicht gab.“
„Und abgeschickt?“
„Nie.“
Eine Weile schwiegen sie.
„Ich mag Züge“, sagte sie.
„Ich auch. Aber nur, wenn sie stehen.“
Dann wieder Stille.
„Glauben Sie, man ist jemand, bevor man etwas wird?“
„Vielleicht ist man etwas, bevor man jemand wird.“
Er sah sie an. Sie hielt das Buch noch immer auf dem Schoß. Ihre Hände ruhten auf dem Einband, als hielten sie den Moment fest, ohne ihn benennen zu wollen.
„Und jetzt“, fragt er.
Sie nannte eine Kleinstadt an der Grenze. Aufgewachsen in einem einfachen Elternhaus. Der Vater in der Glasfabrik, die Mutter zu Hause. Eine kleine Landwirtschaft. Pflichtschule, dann Lehre. Wie es eben üblich ist für ein Mädchen in dieser Gegend. Arbeit als Glasschleiferin seit siebzehn. Es gab ja keine Alternativen.
„Zum Ausbrechen braucht man Mut“, sagte sie. „Ich hab einen älteren Bruder in Kanada. Aber er schreibt selten. Ich glaube, er schämt sich für uns. Für das, was wir sind.“
Ihre Stimme war ruhig, als spräche sie von jemand anderem.
Unvermittelt in das Schweigen hinein fuhr der Zug an.
Es war ein langsames, fast zögerndes Rollen. Als sträube sich der Zug, die Pause zu beenden.
„Es geht weiter,“ sagte er.
Sie sahen einander an. Nicht neugierig, nicht eindringlich, nicht fordernd.
Ihre Blicke trugen keine Rätsel. Sie waren einfach da.
Keine Bewegung. Keine Erklärungen.
Stationen kamen, ohne dass jemand zustieg.
Manchmal befreiten sie mit der Hand die Fensterscheiben vom milchigen Beschlag, um in die Dunkelheit hinauszuschauen. Kurz wurden die Scheiben zu einem Spiegel, in dem sie einander erblickten. Manchmal vermischte sich ihr Blick mit dem eigenen.
Irgendwann kam der Schaffner und wandte sich an ihn: „Bei der nächsten Station müssen Sie aussteigen.“ Er hatte ihn bei der Fahrscheinkontrolle um diesen Hinweis gebeten.
Er stand auf und nahm seinen Rucksack aus der Ablage.
Dann leise: „Darf ich dich wiedersehen?“
Sie sah ihn lange an. Dann hob sie die rechte Hand, zeigte auf einen schlichten Ring. Mehr nicht.
Der Zug hielt. Hatte er Lebewohl gesagt?
Nach dem Aussteigen ging er langsam am Wagen entlang.
Sie stand am Fenster. Sie hatte in das Glas ein Sichtfenster freigewischt.
Sie hob die Hand und legte sie gegen die Scheibe. Er erwiderte die Geste. Als er aufblickte, sah er die Tränen in ihren Augen. Und als der Zug anfuhr und ihre Hände trennte, neigte sie sich leicht vor. Ihre Lippen bewegten sich. Ein Wort vielleicht. Oder zwei. Oder nur ein Hauch.
Auf dem langen Weg zur Kaserne mischten sich seine Tränen mit den Schneekristallen, die der Wind ihm ins Gesicht trieb.