Christerl

Kennengelernt habe ich dich als Möglichkeit oder Notwendigkeit, als ich von meiner Mutter schon nach drei Tagen vom Kindergarten abgemeldet wurde, da ich die Klosterschwester in die Hand gebissen hatte, die meinen Freund geschlagen hatte, weil er keinen Mittagsschlaf machen wollte. „Kinder in diesem Alter sollten unter ihresgleichen sein, wenn sie schon keine Geschwister haben“, hatte man meine Mutter mehrmals belehrt. Diese hat mich dennoch vom Kindergarten abgemeldet, sodass ich bis zum Schuleintritt daheim bleiben konnte, und mir eine Zeit schenkte, die ich mit meiner Tante, die damals als Schneiderin arbeitslos war, und mit meinem schon vom Postdienst pensionierter Großvater in dessen Schrebergarten verbringen konnte. Oder auch bei der verwitweten Schwester meines Großvaters, die ebenfalls in unserem Haus in der Wiener Vorstadt lebte. Ich war rückblickend ein Kind, das seine Kindheit fast ausschließlich unter Erwachsenen verbrachte, denn mein einziger Freund in der Umgebung war eben im Kindergarten geblieben, und von den beiden Mädchen meiner Nachbarschaft war eines zu klein, als dass es als Spielgefährtin in Frage kam, und das andere war zu groß, als dass es sich für einen Buben wie mich interessierte. Das lag auch daran, dass mein gußeisernes Fahrrad und damit auch ich für sie uninteressant geworden war, nachdem sie das rechte Pedal bei einem Sturz abgebrochen hatte

Deinen Namen – Christerl – habe ich erstmals gehört, als ich in unserer Zimmer-Küche-Wohnung an der Küchentür lauschend eine Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern mit anhören musste. Dass das eine Koseform von Christine ist, habe ich erst viel später erfahren. Obwohl ich damals mit vielen Wörtern und Begriffen der Erwachsenensprache noch nichts anfangen konnte, blieben mit die Wut meines Vaters über diese Geldverschwendung und die Trauer meiner Mutter bis heute in Erinnerung. Es war von einer Kolorierung die Rede, die meine Mutter von einem Hausierer hatte machen lassen, der wohl ein arbeitsloser Künstler gewesen sein musste, der sich den Lebensunterhalt damit verdiente, vorhandene Schwarzweißfotos mit ein wenig Farbe zu versehen. Jetzt im Rückblick ist dies für mich eine in sich stimmige Episode, damals aber waren es vor allem die Tränen meiner Mutter, die sich so sehr auf dieses kolorierte Foto gefreut hatte: „Ich hab doch nichts anderes“. Die Tränen in den Tagen nach dieser Auseinandersetzung verbarg meine Mutter vor mir.

Du warst also immer tabu. Nicht nur in den Gesprächen zwischen meinen Eltern, sondern auch in der Familie und bei allen Menschen in unserer Umgebung. Ich weiß nicht, ob ich in dieser Zeit den Mut hatte, Fragen nach dir zu stellen. Vielleicht hatte ich es versucht, aber ich erinnere mich nicht daran, sodass ich wohl auch dich allmählich vergaß.

Heute weiß ich, dass du mich mehr geprägt hast, als wenn du da gewesen wärst, denn dir verdanke ich die Angst, die mich von Kindheit an mein ganzes Leben begleitet hat, denn es war dein Schicksal, das meine Mutter und wohl auch meinen Vater ängstlich werden hatte lassen. Ich musste demnach die Sorgen, die sich Eltern um zwei Kinder machen, alleine tragen. Schließlich war ich dein Ersatz, den man vor den Fährnissen des Lebens bewahren musste, und dem unter allen Umständen nichts zustoßen durfte. Bei allem, was ich unternahm, hieß es vorsichtig zu sein, nichts zu riskieren. Auf der Stiege vom ersten Stock, wo ich mit meinen Eltern lebte, musste ich immer eine Hand am Handlauf haben und mich dort festhalten. So durfte ich nicht auf den Baum in unserem Hof klettern, denn ich hätte ja abstürzen und mich auf dem Betonboden verletzten können. Zwar hat mich mein Großvater im Garten beim Kirschenernten manchmal auf die Leiter steigen lassen, aber davon meiner Mutter zu erzählen hütete ich mich.

Diese Angst wurde auch bei jeder Gelegenheit sichtbar, bei der es um Entscheidungen über meine Zukunft ging. Etwa beim Schulwechsel auf das Realgymnasium, ob ich es trotz der vorzüglichen Leistungen in der Volksschule auch schaffen würde. Oder bei der Entscheidung, aus meiner Heimatstadt wegzuziehen und eine eigene Existenz zu gründen. Oder bei der Entscheidung für eine Frau. Dabei bekam ich immer zu hören, ob ich denn doch sicher wäre, dass das die richtige für mich ist. Und auch nach vielen Jahren meiner Ehe stellte mir meine Mutter immer wieder die Frage, ob ich denn auch glücklich in dieser Beziehung wäre. So trug ich diese eingeimpfte Lebensangst ständig mit mir herum, die mich sogar an glücklichen Tagen immer zweifeln ließ.

Müsste ich meine Mutter charakterisieren, dann fiele mir nur ein Wort ein: verzagt. Und ich hatte später auf Grund meiner Profession immer wieder versucht, mir die Ursachen für diese Verzagtheit zu erklären. Ihre Familie war aus der ursprünglichen Heimat in Schlesien vertrieben worden, hatte aber auf Grund der sicheren Anstellung ihres Vaters, meines Großvaters, eine nach ihren Erzählungen unbeschwerte Kindheit in der Zwischenkriegszeit erlebt. Sie hatte kurz nach der Heirat die Arbeitslosigkeit meines Vaters mitgetragen und sie beide als Hilfsarbeiterin einige Jahre über Wasser gehalten. Sie war meinem Vater, der aus dem Russlandfeldzug mit einem Knie- und einem Kopfschuss zurückgekommen war, eine traditionelle Gattin, die ihn auch dann nicht verließ, als er sie mehrmals betrogen hatte. Sie blieb wegen mir, wie es damals hieß.

Oft habe ich mich gefragt, ob mein Leben mit dir nicht ganz anders verlaufen wäre, ob ich in meinem Leben hätte mutiger sein können. Heute weiß ich: Du hast mir immer gefehlt und warst doch da.


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