„Nicht schon wieder!“ fluchte Anne.
Sie hatte am Vorabend das graue Kostüm und die blassblaue Bluse zurecht gelegt, die sie heute anziehen wollte. Erst jetzt bemerkte sie, dass der oberste Knopf fehlte. Sie trug die Bluse selten und wusste nicht, wann der Knopf verloren gegangen war.
Für Anne war es ein wichtiger Tag. Es hatte sie überrascht, dass sie überhaupt zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden war, hatte sich nach dem Versand ihrer Bewerbung nur wenig Chancen ausgerechnet, da sie kurz danach eine Rückmeldung mit den üblichen Phrasen erhalten hatte. Das war vor über zwei Monaten gewesen und sie hatte in der Zwischenzeit ihre Bemühungen, eine Anstellung zu erhalten, anderweitig fortgesetzt. Erfolglos.
Sie ging mit der Bluse in der Hand in ihr Schlafzimmer, öffnete den Wäscheschrank, und suchte nach der Holzschachtel mit dem Schiebedeckel, in der sie alle Knöpfe aufbewahrte, die sie nach dem Vorbild ihrer Mutter vor dem Wegwerfen von Kleidern abgetrennt hatte. Sie leerte den Inhalt der Holzschachtel auf ihren Kopfpolster, in den sie zuvor mit der flachen Hand eine Vertiefung gedrückt hatte. Sie verteilte die Knöpfe auf dem Kopfpolster, um einen besseren Überblick zu haben. Mit den Fingern der linken Hand einen der blauen Knöpfe der Bluse als Muster bereithaltend, ließ sie ihren Blick über die ausgebreiteten Knöpfe gleiten. Doch keiner der Knöpfe passte von der Größe und von der Farbe her. Da entdeckte sie einen etwa größeren roten Knopf, der gerade so durch das Knopfloch passte.
„Ist auch schon egal“, murmelte sie, holte das von ihrer Mutter geerbte Nähkästchen, das sich ebenfalls im Schlafzimmerschrank befand, und machte sich daran, den Knopf anzunähen. Sie wählte ein dunkelblaues Garn, mit dem sie den Knopf zuoberst an der Knopfleiste ihrer Bluse fixierte. Wie immer hatte sie bei wichtigen Terminen großzügige Zeitpuffer eingeplant; das Missgeschick brachte sie also nicht aus dem Takt.
Nun konnte sie sich ohne Druck auf den Weg machen.

Als Anne das Gebäude betrat, das hoch oben über dem letzten Stockwerk in nüchternen Buchstaben den Namen des Verlags trug, fühlte sie sich überraschend ruhig. Vielleicht, weil sie sich selbst nicht allzu viele Hoffnungen machte, vielleicht auch, weil sie sich insgeheim darüber amüsierte, dass sie nun mit einem roten Knopf unter all den blauen vorstellig wurde – ein roter Punkt inmitten des Erwartbaren. Ein stiller, kleiner Protest.
Sie wurde von einer jungen Mitarbeiterin in das Besprechungszimmer geführt, dessen Wände in einem seltsamen Gelbgrau gestrichen waren. Als Anne den Raum betrat, saß der Personaler bereits am Tisch. Ein Mann in den späten Vierzigern, dünnes glattes Haar, randlose Brille, grauer Anzug. Auf dem Tisch zwei Gläser und eine leere Karaffe, in einem gleichschenkeligen Dreieck angeordnet.
Der Personaler stand nicht auf, als Anne eintrat, sondern hob nur leicht den Kopf und deutete auf den Stuhl gegenüber.
„Frau Jansen“, sagte er, „bitte, nehmen Sie Platz.“
„Also … ja“, begann er und schlug seine Unterlagen auf.
Er hob den Blick, als würde er erst jetzt bemerken, dass da jemand saß.
„Frau Jansen …“, wiederholte er, sprach aber nicht weiter, sondern blätterte langsam in der Mappe, als wollte er sich selbst Zeit verschaffen. Wieder richtete er seinen Blick auf sie, um ihn gleich wieder auf seine Unterlagen zu lenken.
„Sie haben … Germanistik studiert“, murmelte er schließlich. Er sprach langsam, als müsse er sich erst vergewissern, was er gerade gelesen hatte.
„Genau. In Leipzig. Ich habe vor vier Jahren meinen Abschluss gemacht.“
Sein Blick glitt zwischen seinen Unterlagen und ihr hin und her. Anne folgte ihm instinktiv mit den Augen und sprach weiter, berichtete von ihrem Praktikum, von den Lektoratsarbeiten, die sie zuletzt freiberuflich übernommen hatte.
„Und danach … Verlagserfahrung?“
„Ein Praktikum. Dann freie Mitarbeit. Vor allem Lektoratsprojekte.“
Er nickte, doch das wirkte mechanisch. Sein Blick glitt zum Fenster, dann kurz über ihr Gesicht, bevor er in der Mappe verschwand. 
„Sie haben … also auch mit Autorinnen gearbeitet?“
„Ja, auch direkt im Austausch, besonders bei Erstveröffentlichungen.“
Er griff nach einem Stift, drehte ihn zwischen den Fingern, legte ihn wieder ab. Seine Augen wanderten erneut zwischen seiner Mappe und ihr hin und her.
Er rieb sich kurz die Stirn, griff nach dem Stift, nur um ihn gleich wieder auf den Tisch zu legen. „Aha. Und wie würden Sie Ihre Arbeitsweise beschreiben?“
Erst jetzt fiel Anne auf, dass sich ihr Gegenüber keine Notizen machte, wie es üblicherweise bei solchen Gesprächen der Fall war.
„Strukturiert“, sagte sie. „Ich kann mit Texten sehr schnell umgehen, ich bin zuverlässig und erledige Aufgaben in der Regel vor der Deadline.“
Ein kurzes Nicken. Wieder dieser abwesende Blick. Er schloss den Schnellhefter und legte ihn vor sich auf den Tisch, tippte mit dem Zeigefinger langsam gegen die Tischkante, als würde er etwas zählen oder sich erinnern wollen.
Als sie in diese Pause hinein eine Gegenfrage stellte – wie die Einarbeitung in der Redaktion abliefe – schien er überrascht, als hätte er nicht damit gerechnet, dass auch sie eine Frage an ihn hatte.
„Entschuldigung“, sagte er, „was hatten Sie gefragt?“
Sie wiederholte geduldig. Er nickte erneut, doch seine Antwort blieb aus. Stattdessen fuhr er sich mit der Hand über den Nacken, dann über den Hemdkragen. Die Stille, die abermals entstand, war keine Pause. Es war ein Systemfehler.
Er öffnete den Schnellhefter vor sich, schloss ihn wieder. Dabei stieß er an den Stift, der langsam über den Tisch rollte und über die Tischkante beinahe geräuschlos auf den Boden fiel. Er war mit den Augen dem Stift gefolgt, machte aber keine Anstalten, diesen festzuhalten und vor dem Sturz zu bewahren.
Er öffnete die Mappe abermals.
„Wie … wie würden Sie sich selbst beschreiben? Beruflich, meine ich.“
„Strukturiert, zuverlässig, gut im Zeitmanagement. Und ich bin mit Sprache sehr sicher.“
Er atmete hörbar aus. Sah kurz auf die Mappe, dann zur Uhr, die rechts von ihm an der gelbgrauen Wand hing. Unruhig wanderte nun sein rechter Zeigefinger über die Tischkante. Dann hielt er inne.
„Wir … melden uns dann in den kommenden Tagen.“
Das war alles. Kein Händedruck.
Sie stand auf, bückte sich, hob den Stift auf und legte ihn auf den Tisch.
„Danke.“
„Bitte.“
Er sah ihr auch nicht nach, sondern starrte einige Zeit lang auf den leeren Stuhl, als sei noch etwas von ihr zurückgeblieben.
Draußen im Flur spürte Anne, wie angespannt ihre Schultern waren.
Es war ihr, als würde sie das Verlagsgebäude fluchtartig verlassen, obwohl sie bedächtig einen Fuß vor den anderen setzte.

Als sie nach einer Woche einen Brief vom Verlag erhielt, ließ sie ihn einen Tag lang auf der Vorzimmerkommode liegen, bevor sie ihn öffnete …