Der AAARGH!-Moment

Es geht zunächst um dieses Gefühl der Enttäuschung, das jedoch schon ein wenig des hier berichteten AAARGH!-Momentes vorwegnimmt, der sich erst später manifestieren wird.
Doch der Reihe nach.
Versetzen wir uns einmal in die Rolle eines Menschen, der ab und an zur Feder greift oder sich an den Computer setzt, um seine Gedanken in literarisch schöpferischer Absicht zu Papier zu bringen. Das können Gedichte, kurze Prosatexte sein, aber auch ganze Romane. Es dauert oft Tage oder Wochen, bis die letzte Fassung eines solchen Textes gefunden wird, die dem eigenen selbstkritischen Geist standhalten kann. Nicht zu Unrecht sprechen manche vom vergossenen Herzblut, das in diese Tätigkeit einfließt.
Viele dieser Autorinnen und Autoren entschließen sich danach, das eben entstandene Werk vermittels eines Mediums der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nehmen wir konkret an, es handelt sich um einen Text, der nach einer thematischen Ausschreibung einer Zeitschrift oder eines Verlages verfasst worden ist. In diesem Fall ist es notwendig, diesen den Herausgeberinnen oder Herausgebern zukommen zu lassen. Das ist heute in vielen Fällen schon online und ohne Bemühungen der Post möglich, denn nicht wenige Zeitschriften bieten eine Einreichung via Formular oder Email-Anhang an. Erfahrungsgemäß ist diese unkomplizierte Form bei traditionellen Printmedien, die auf eine lange literarische Vergangenheit zurückblicken können, eher selten, denn von diesen werden oft mehrere, manchmal auch anonymisierte papierene Exemplare gefordert, die dann links oben geheftet in einem Kuvert unter Beilage eines Lebenslaufes mit den persönlichen Daten ausreichend frankiert auf die Reise geschickt werden müssen.
Ist dieser vorläufige, finale Akt der Geburt einer literarischen Höchstleistung bewältigt, macht sich bei dem oder der Absendenden ein Gefühl der Erleichterung oder gar der Hoffnung breit, seinen bzw. ihren Teil zu einer erfolgreichen Karriere als Dichter bzw. Dichterin oder zumindest Schreiber bzw. Schreiberin beigetragen zu haben.
Manchmal kennt man die konkrete Wartezeit, bis man eine Rückmeldung zur Annahme der literarischen Hervorbringung bekommt, häufig knapp vor dem Erscheinen des Druckwerkes. Den Fall allerdings, dass die sehnlichst erwünschte Annahme funktioniert hat, können wir hier übergehen, denn die hat mit dem Thema dieses Textes nichts zu tun bzw. ist diesem emotional diametral konträr.
Zuvor ist zu erwähnen, dass in manchen Fällen im Hinblick auf Annahme bzw. Absage prophylaktisch reagiert wird – vor allem bei einer digitalen Abwicklung. Hier heißt es dann: „Wir danken für Ihre Einsendung, weisen aber darauf hin, dass wir keine Absagen sondern gegebenenfalls nur Zusagen schreiben – bei mehreren hundert Einsendungen pro Ausgabe (über die wir uns selbstverständlich freuen!) wäre das andernfalls einfach zu viel Arbeit“. Für Ungeduldige wird dann vielleicht noch hinzugefügt: „Natürlich beißen wir niemanden, der nach ein paar Wochen/Monaten einmal nachfragt – dann geben wir, sobald wir die Zeit dafür finden, auch gerne Auskunft.“ Solche Formulierungen sind durchaus dazu angetan, einen Schwebezustand zwischen Hoffnung und Enttäuschung zu erzeugen, der schon auf Grund langjähriger Erfahrung vorwegnehmende emotionale Momente eines AAARGH! aufkeimen lässt.
Eine interessante neue Variante hat den Autor jüngst erreicht: „Vielen Dank, wir haben Ihre Einreichung erhalten! Bitte beachten Sie, dass Sie nur im Falle einer positiven Rückmeldung von uns kontaktiert werden und Sie ansonsten keine weiteren Mails erhalten.“ Damit ist klar gestellt, dass man sich eigentlich keine übertriebene Hoffnung zu machen braucht, jemals eine Rückmeldung zu erhalten. Immerhin heißt es aber dann abschließend: „Ob Sie gewinnen oder nicht: Gerne möchten wir Sie hiermit bereits zur Preisverleihung einladen und würden uns freuen, Sie bei der Veranstaltung zu sehen!
In diesem Zusammenhang müssen der Vollständigkeit halber auch jene Fälle erwähnt werden, bei denen überhaupt keine Rückmeldung erfolgt, weder bei der Einreichung, weder nach der Juryentscheidung noch beim Erscheinen des Druckwerkes.
Um den Arbeitsaufwand zu reduzieren, hat es sich bei manchen Herausgeberinnen und Herausgebern eingebürgert, dass potenzielle Texte vermittels einer Eingabemaske abfallvermeidend geliefert werden sollen, wobei darauf ein automatisiertes Feedback erfolgt. In diesem Fall hat man immerhin die Rückmeldung, dass das Werk auf dem Server des Mediums eingelangt ist und somit hoffen darf, dass jemand diese Daten vom Server auch herunterholt und der Jury vorlegt, während bei einer postalischen Einsendung ein gerüttelt Maß an Vertrauen in die Österreichische Post gefragt ist.
In unserer Analyse geht es aber allein um den Fall der Nichtakzeptanz des Textes, also um den AAARGH!-Fall. Ein solcher tritt manchmal schon dann ein, wenn man in seinem Postkasten ein Schreiben findet, das man auf Grund des Absenders der meist lange zurückliegenden Einreichung zuordnen kann. Oft zögert man ein wenig, bevor man das Kuvert mit einem Brieföffner vorsichtig aufschlitzt, das Schreiben entnimmt und zwischen Hoffen und Bangen auffaltet. Früher erhielt man nicht selten Druckfahnen zur Endkorrektur beigelegt, sodass schon die Dicke des Briefes darauf schließen ließ, dass man angenommen worden ist. Das ist in Zeiten der Digitalisierung kaum noch der Fall wie auch generell der postalische Versand von Korrekturbögen, sodass die Hoffnung bis zum Lesen des Schreibens anhalten darf.
Wenn man also nach dem Auffalten des Schreibens die Formulierung „Liebe Autorinnen und Autoren“ oder gegendert „Liebe Autor*innen“ findet, weiß man meist schon, wieviel es geschlagen hat, denn hier handelt es sich offenbar um einen verlegerischen Schimmelbrief. Da heißt es dann etwa „Wir bedanken uns für Ihren Beitrag zu … und bedauern sehr, dass Ihr Text von der Jury nicht berücksichtigt werden konnte“ oder „Es tut uns sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Text keine Aufnahme in … finden konnte“. Manchmal werden auch vergleichbare Formulierungen in der Du-Form benutzt, die vor allem von eher kleineren literarischen Formaten gewählt werden, wobei die dadurch ausgedrückte Vertrautheit an der dabei durchlebten Situation grundsätzlich wenig ändert. Absage ist Absage. Schmerz ist Schmerz.
Nicht selten findet man dann vor der kopierten Unterschrift der oder des Verantwortlichen noch die Formulierung, dass man aber bei der nächsten Ausgabe wieder sein Glück versuchen solle. In besonders empathischen Schreiben wird dann auch noch gebeten, sich von dieser Absage nicht entmutigen zu lassen, sondern seine schriftstellerische Tätigkeit doch weiter zu betreiben und sein Glück weiter zu versuchen, etc etc.
Kaum noch erhält man ein namentlich ausgezeichnetes Schreiben, in welchem man nicht nur mit vollem Namen angesprochen wird – das kann aber in Zeiten von Künstlicher Intelligenz unter Umständen auch eine Software -, sondern auch konkrete Hinweise auf den Ablehnungsgrund erhält. Diese sind in der Regel aber nicht auf den Inhalt bezogen, enthalten also kein literarisches Feedback, sondern beziehen sich auf die seitentechnische Beschränkung der Herausgeber oder die große Anzahl der Einreichungen. In solchen Fällen wird man meist auch nicht bloß ermutigt, seine schriftstellerische Karriere trotz der aktuellen Ablehnung fortzusetzen, sondern wird explizit gebeten, sich an der nächsten Ausschreibung zu beteiligen, wobei in vielen Fällen das neue Thema und ein entsprechender Termin vorab genannt werden.
Ein konkretes Beispiel gefällig?

Hallo aus der XXX-Redaktion,
nach intensiven Diskussionen steht die Auswahl für das XXX #00 zum Thema „AAARGH!“ fest. Um es kurz zu machen:

Dein Beitrag wird dieses Mal leider nicht dabei sein.
Wir wollen trotzdem DANKE sagen – für dein Interesse und deine Motivation für das XXX etwas auf die Beine zu stellen. 

Die Entscheidung, welche der eingereichten Arbeiten abgedruckt werden, wird in einer Jurysitzung getroffen. Dabei ist das Redaktionsteam und wechselnde externe Personen anwesend. Die Nähe zum Heftthema ist dabei ein wichtiges Kriterium. Bei der Auswahl geht es aber nicht immer nur um inhaltliche und/oder stilistische »Qualitäten«, sondern auch darum, ein möglichst breites Spektrum an Text- und Bildsorten und an unterschiedlichen Perspektiven auf das jeweilige Heftthema abzudecken. Leider haben wir dafür nur 80 Seiten zur Verfügung und diese Fülle an Einreichungen (diesmal über 150!) macht uns die Entscheidung nicht leicht.
Aber bald geht es ohnehin mit der nächsten Ausschreibung weiter – also gerne wieder, unser Newsletter hält dich am Laufenden. 
Liebste Grüße
XXX

Auch wenn das Ergebnis einer solchen freundlicheren Mitteilung dasselbe wie im davor geschilderten Fall ist, entstehen doch die selben Emotionen, wenn auch zeitverzögert. An diesem Punkt überwiegt zwar bei manchem Dichter oder mancher Dichterin noch die Enttäuschung und meist auch Leere, doch im Innersten regt sich bereits das AAARGH!, das dann in voller Heftigkeit beim Erscheinen der Zeitschrift herausbrechen wird.
Der wahre AAARGH!-Moment tritt nämlich dann ein, wenn man die Ausgabe des Druckwerkes in seinem Postkasten findet oder sogar in einer Buchhandlung erworben hat und in einer ruhigen Stunde beginnt, die Beiträge der glücklicheren Autorenkolleginnen und -kollegen zu lesen. Wenn dann zwar einige der Beiträge durchaus literarische Qualität aufweisen, findet man stets auch Texte, deren Niveau objektiv betrachtet tief unter der eigenen abgelehnten Schöpfung liegt. In vielen Fällen entdeckt man aus früheren Heften bekannte Namen, was darauf hindeutet, dass von den Herausgeberinnen und Herausgebern bewährte Autorinnen und Autoren bei der Auswahl bevorzugt worden sind. Bei Durchsicht der am Heft- oder Beitragsende angeführten Biografien entdeckt man nicht selten Hinweise darauf, dass die Berücksichtigten regional oder alterstechnisch dem Herausgeberstab offenbar verbunden sind, dass also eine Art literarische Freunderlwirtschaft vorliegt.
In einer solchen sich steigernden AAARGH!-Stimmung sind je nach Umfang des in den eigenen Beitrag investierten Herzblutes aversive Gedanken nicht selten, dieses Druckwerk in ferner Zukunft nicht mehr mit eigenen Beiträgen zu bedenken, nein zu beschenken, denn schließlich hätte man Besseres zu tun, als seine literarischen Perlen vor …
Diese echte AAARGH!-Phase währt erfahrungsgemäß bis zum Ende des Tages und kann sensiblere Menschen durchaus in eine schlaflose Nacht begleiten. Mit der Zeit beginnen die meisten aber eine eher professionelle Einstellung zu Ablehnungen und Zurückweisungen zu entwickeln, wobei die Häufigkeit der hier beschriebenen Erfahrungen durchaus ihren Beitrag in Richtung Gewöhnung leistet. Dies kann einerseits unter seltenen Umständen in eine realistischere Einschätzung der eigenen literarischen Kompetenz münden, aber auch darin, irgendwann doch den Durchbruch zu schaffen und dann mit einem milden Lächeln auf die offensichtliche Inkompetenz dieser einstmaligen Juroren und Jurorinnen zurückzuschauen. Nicht selten aber beginnt man sich schon beim Absenden seiner nächsten literarischen Hervorbringung zu fragen, was sie wohl diesmal für einen Grund finden werden, um diese nicht in das Druckwerk aufzunehmen. Man kann also in dieser Hinsicht zumindest hoffnungsvoll gespannt sein …

Dieser Text – ohne das oben zitierte Beispiel –  ist nachzuhören in der Sendung Federspiel 96 vom März 2023 – das federleichte Spiel mit Worten – gelesen vom Autor, beginnend ab Minute  8:15.


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