Als Günter K. an diesem Mittwoch das Café Maier betrat, hing der Geruch von verbranntem Zucker und abgestandenem Filterkaffee schwer über den Holztischen. Die Mittagssonne drückte flach durch die Fenster und verwandelte die Gesichter der wenigen Gäste in müde Silhouetten.
Der reservierte Platz — Werners Platz — lag in einer dunklen Ecke, halb von einem Garderobenständer verdeckt. Günter setzte sich, ließ sich in die Polster sinken und spürte, wie die Kälte des Leders langsam von seinem Körper vertrieben wurde.
„Warm halten“, murmelte er und wusste nicht, ob er es scherzhaft meinte oder als Tarnung für etwas, das er selbst kaum begriff.
Vor zwei Wochen war beim Federspiel-Treffen etwas geschehen, das seither unausgesprochen zwischen ihnen lag. T. hatte dort Andeutungen gemacht, die Günter nicht vergessen konnte:
Jemand verfolgt euch. Jemand kennt eure Wege besser als ihr selbst.
Günter hatte gelacht. Natürlich. Das taten alle.
Doch seitdem erschien ihm jeder Gruß zu beiläufig, jede Begegnung zu geplant, jede Information zu schnell unterwegs.

U. war die Erste, die sich an diesem Tag zeigte. Sie kam schweigend durch den Raum, streifte an ihm vorbei, berührte seine Schulter mit einer seltsamen Selbstverständlichkeit und verschwand wieder hinaus. Ein kalter Windstoß blieb zurück.
Als Werner Stunden später antwortete — „U. hat mich eingeholt, sie hat mir berichtet“ — starrte Günter lange auf die Nachricht.
U. hatte ihn nicht angesehen, nicht mit ihm gesprochen, nicht einmal verlangsamt. Wie konnte sie berichten? Und was?
Er wollte die Gedanken wegdrücken, doch Abgründe ließen sich nicht wegdrücken. Sie warteten.

Am Abend war das Café fast leer. Nur eine einzelne Lampe brannte noch über dem Tresen und zeichnete schmale Kratzer in das Holz.
Günter saß wieder auf Werners Platz. Er hatte nicht vorgehabt, zurückzukehren. Seine Schritte hatten ihn dennoch hierher getragen — wie geführt.
Er bestellte keinen Kaffee. Er wartete.
Kurz vor Ladenschluss erschien T..
Er hatte den Mantel offen und die Augen zu ruhig, als gehörten sie jemandem, der alles erwartet hatte.
„Du sitzt wieder auf seinem Platz“, sagte er.
„Ich wusste gar nicht, dass ich heute herkomme“, entgegnete Günter.
T. lächelte dünn. „Doch, das wusstest du. Du erinnerst dich nur nicht.“
Die Luft wurde plötzlich schwer.
Günters Herz schlug hart gegen seine Rippen, als hätte es etwas Dringendes zu melden, das sein Gehirn längst verdrängt hatte.
„Was soll das heißen?“
T. setzte sich ihm gegenüber, ohne zu fragen, und lehnte sich vor, sodass sein Gesicht im Halbdunkel verschwand.
„Vor zwei Wochen beim Federspiel-Treffen hast du mir etwas anvertraut. Über Werner.“
Seine Stimme war leise, fast liebevoll.
„Du hast mir gesagt, wo er sich immer aufhält. Wann. Mit wem. Und warum er diesen Platz braucht.“
Günter öffnete den Mund — und fand keine Erinnerung, nur ein Kribbeln hinter der Stirn. Etwas fehlte. Etwas Entscheidendes.
T. tippte mit dem Finger auf den Tisch. Ein langsamer, rhythmischer Schlag.
„Du hast mir auch gesagt, dass du ihn verraten würdest. Wenn die Zeit kommt.“
Günter schüttelte den Kopf. „Ich habe niemanden—“
„Günter.“
T.’ Stimme schnitt durch den Raum.
„Du wolltest dich nicht erinnern. Also habe ich dir geholfen. Man vergisst nur, was man vergessen will.“
Der Raum kippte. Die Schatten an der Wand schienen sich zu bewegen, als wollten sie zuhören.
„Wo ist Werner?“, fragte Günter.
Doch die Frage kam ihm zu spät.
Er wusste es bereits.
Er wusste es seit dem Moment, in dem er den Platz wieder betreten hatte. Seit dem Moment, in dem T.s Nachricht ihn erreichte. Seit dem Moment, in dem U. ihn wortlos berührt hatte — ein stilles Signal. Eine Bestätigung. Ein Abschied.
T. stand auf. „Niemand wird suchen. Niemand wird fragen. Ihr zwei wart die Letzten, die ihm nahe standen.“
„Was hast du getan?“, flüsterte Günter.
T. sah ihn an, und zum ersten Mal erkannte Günter in seinen Augen etwas, das nicht menschlich war — eher ein kühles, mechanisches Einverständnis mit einer Ordnung, die er selbst nicht verstand.
„Ich? Gar nichts.“
Er zeigte auf Günter.
„Du warst es.“
Und Günter spürte, wie die Erinnerung zurückkroch.
Wie er an jenem Abend Werner auf dem Weg nach Hause begleitet hatte.
Wie der Nebel dichter geworden war.
Wie eine Stimme in seinem Kopf gesagt hatte, er müsse handeln.
Wie er gehandelt hatte.
Er sah seine Hände, blass im Licht der Café-Lampe, und erinnerte sich an das dunkle Wasser des Kanals, an die Stille danach.
T. nickte, als hätte er auf diesen Moment gewartet.
„Und deshalb“, sagte er, „wusste ich, dass du heute hier sitzen würdest.“
Günters Telefon vibrierte.
Eine neue Nachricht.
Von Wer—
Nein. Von jemandem, der sich nur so nannte.
„Danke fürs Warmhalten.“
Draußen begann es zu regnen.
Und irgendwo in der Stadt trieb im schwarzen Wasser ein Geheimnis, das wieder an die Oberfläche wollte.