Es war ein regnerischer Nachmittag, als er wieder einmal in seiner Bibliothek saß, die Feder in der Hand, die Stirn von Gedanken in tiefe Falten gelegt. Auf dem Tisch vor ihm lag ein von der Spitze seiner Feder noch unberührtes Blatt Papier: Ein Werk über Isaac Newton. Der Gedanke hatte ihn in den letzten Wochen nicht losgelassen. Newton, der große Wissenschaftler, der die Gesetze der Schöpfung entdeckt hatte – ein Thema für ein Werk, das gewaltig sein musste, um der Größe dieses Genies gerecht zu werden.
Doch trotz aller gedanklichen Ruminationen, trotz des Blätterns in vergilbten wissenschaftlichen Schriften und der quälenden Grübelei über metaphysische Fragen, war ihm kein einziger funkengleicher Gedanke zugeflogen, der das Werk Newtons in seinen Gedankengängen entzünden hätte können. Horror vacui! Noch nie hatte er dieses Gefühl so nah und zupackend erlebt. In diesem Augenblick war er etwas, das er in seinem Leben nur sehr selten war: verzweifelt. Er strich sich über das immer schütterer werdende Haupthaar, blickte auf den Schreibtisch, dessen Ordnung sich allmählich zur Manifestation seiner inneren Zerrissenheit entwickelt hatte. Bücher stapelten sich, Manuskripte lagen im Chaos, und der einst rote Apfel, den er aus einem alten Krämerladen in London mitgebracht hatte, lag grinsend vor ihm auf dem Tisch. War nicht der Apfel das Symbol von Newtons Entdeckung? Er fiel doch vom Baum, und mit ihm fiel die Erkenntnis der Schöpfung in Newtons Schoß. Warum wollte dieser Apfel nicht zu ihm sprechen? Warum nicht?
Plötzlich wurde die Tür zu seiner Bibliothek mit einem lauten Knarren geöffnet, und sein bester Freund trat ein. Er fuhr erschrocken auf, als er dessen neugierige Augen bemerkte. Beinahe entschuldigend sagte dieser: „Christiane hat mich hereingelassen und Carl war nicht da, um mich anzukündigen!“
„Ihr seid in diesem Haus stets willkommen, das wisst Ihr doch“, besänftigte er seinen Freund.
„Nun, hat mein Rat geholfen?“
„Ach, mein Bester, so sehr ich mich auch bemühe, es will mir nichts gelingen. Noch immer steht mir dieser Berg Isaac Newton vor der Nase … ich weiß nicht, wie ich es angehen soll. Obwohl ich mir auf Ihren Rat hin während meiner Reise nach England eigens einen in Woolsthorpe Manor gereiften Apfel besorgt hatte.“
„Ihr sucht zu viel im Abstrakten, mein Freund. Ihr seid zu sehr Literat, trotz manch Eurer frühen Schriften zu wenig kühler Wissenschaftler. Das Werk, das Ihr schaffen wollt, wird nicht in den Formeln und Theorien von Newton liegen, sondern in den Herzen der Menschen. Die Natur, die Schöpfung ist der wahre Grundstoff!“
Er nickte schwach, denn der Gedanke, den von ihm eingeschlagenen Weg aufzugeben oder von ihm abzuweichen, behagte ihm gar nicht. Es musste eine Möglichkeit geben. Der Funken von Newtons Genius sollte doch in der Analyse seinen zahlreichen Studien auf ihn überspringen. Wie immer, wenn er eine Sache in Angriff nahm.
„Ihr habt recht, mein Freund, aber dennoch … Newtons Entdeckungen. Sie sind so grandios, so präzise. Ich möchte, dass dieses Werk dieselbe Klarheit, dieselbe Ordnung in sich trägt, wie seine Gesetze. Doch was habe ich bis jetzt? Nichts als Fragen …“
„Sehen Sie doch, mein Verehrter, die Apfel hat doch noch immer rote Backen! Habt Geduld, bis sich die ersten Spuren des Verfalls an ihm zeigen. Der Apfel auf meinem Schreibtisch wird manchmal schon von Fliegen umschwirrt und von Maden zerknirscht, bis mir das erste Wort in die Feder fließt. Übet Euch in Geduld.“
Kurz nachdem ihn seinen Freund verlassen hatte, fegte er mit einer grandiosen Bewegung alle Bücher und Schriften der Alchemisten, alle Theorien der Schöpfung von seinem Schreibtisch, sodass nur mehr das leere Blatt, seine Feder und der verfluchte Apfel vor ihm lagen. Er hoffte, durch diese radikale Reduktion seines Arbeitsplatzes von der ihn stets bedrängenden und aus einer ablenkenden Peripherie hereinblickenden Gedanken befreit zu werden.
Es gingen nach diesem Besuch seines Freundes aber noch einige Tage ins Land, in denen er einige Male ratlos vor dem Apfel saß. Dieser Apfel … wie konnte er nur den Impuls in diesem einfachen Gegenstand finden? Er nahm ihn in die Hand, betrachtete die braune Färbung, fühlte, wie die einst pralle Fülle immer mehr dem Verfall anheim fiel. War es dieser allmähliche Verfall, der ihm die wahre Erkenntnis offenbaren sollte?
Wieder war es ein regnerischer Tag. Draußen war es schon dunkel geworden. Dieses Mal stand er schon nach kurzem Verweilen in der Betrachtung des Apfels auf und trat ans Fenster. Der Regen prasselte gegen die Scheiben. Er starrte für einen Moment auf den nun ziemlich leeren Tisch, auf das Stück Papier, das in seiner weißen, unbeschriebenen Unschuld vor ihm lag, und den nun schon nach Verwesung riechenden Apfel. Vielleicht war es gerade der Apfel, der ihn behinderte.
Er nahm den Brieföffner, der auf dem Lesepult neben seinem Schreibtisch stand, stieß ihn ohne großen Widerstand in den Apfel, ging langsam zum Fenster. Er fühlte sich wie ein Schauspieler, der in einem seiner eigenen Werke auftrat. Er öffnete das Fenster, durch das der Wind schwere Tropfen auf seinen samtenen Ärmel wehte, und schleuderte den Apfel bis nahe an den Stamm des in der Dunkelheit unsichtbaren, aber durch sein Rauschen ahnbaren Ginkobaumes vor seinem Haus. Ein Blitz ließ kurz die Silhouette des Baumes gegen den dunklen Raum der Nacht sichtbar werden. Für einige Augenblicke lauschte er dem Nachhall des Donners und der aufgewühlten Szenerie, die nun auch sein Innerstes erfasste, und verriegelte das Fenster mit einer entschlossenen Bewegung.
Dann begann er zu lächeln, und wandte sich dem Schreibtisch zu. Der Apfel war fort, und mit ihm war die Last von Newton und der Schöpfung von seinen Schultern abgefallen. Der Blitz hatte wahrhaftig einen Funken in ihm entzündet. Er setzte sich, ergriff die Feder, tauchte sie in das Tintenfass und begann zu schreiben:
„NACHT. Hab nun ach die Philosophey, Medizin und Juristerey, und leider auch die Theologie durchaus studirt mit heisser Müh …“
Verfasst für DUM # 113 zum Thema Apfel.