„Das meinen Sie doch nicht im Ernst?“
„Doch! Mein vollster Ernst! ‚Sie‘ entsteht allein in unserem Kopf”, klugte der Ältere nachdrücklich, während er in kontrollierten Bewegungen mit dem Kaffeelöffel die angetrocknete Crema von der Innenseite seiner Kaffeetasse schabte. „Allein dort!” Und wiederholte mit genießend geschlossenen Augen die Crema von seinem Kaffeelöffel lutschend: „Allein dort!”
Er beiläufigte seinen Blick am Gegenüber vorbei durch das Fenster auf den plätscherregengrauen Pfarrplatz und ließ ihn an einer Passantin hängen, die wenig später das Café Meier betreten und nach einem halbherzigen Kampf mit ihrem Regenschirm resignierend in der Nähe der Männer Platz nehmen wird.
Der Jüngere der beiden bequemte sich inzwischen auf seinem Sessel und legte den Kopf auf die Faust seiner rechten Hand, die sich ihrerseits mit dem Ellbogen in der Handfläche seines linken Armes abstützte, die auf der ansehnlichen Wölbung seines Bauches ruhte. Offensichtlich wollte er mit dieser Haltung seinen Kopf, in dem ‚Sie‘ sich nach der Aussage seines Gegenübers im vollsten Ernst befand, unterstützen. Auch der Ältere lehnte sich im Sessel zurück, faltete die Hände vor seinem viertagebärtigen Kinn, wobei sich die korrespondierenden Fingerspitzen der beiden Hände berührten, und die Finger in der geraden Fortsetzung der Unterarme auf einer Linie lagen, so dass die auf den Sessellehnen aufgestützten Arme ein großes ‚A‘ bildeten. Er wird diese Position beinahe während des gesamten Gesprächs beibehalten bis zu dem Augenblick, in dem er auf die Uhr sehen wird, um das Gespräch zu beenden.
Beide inzwischten ihren Diskurs für einen Augenblick, als die zuvor vom Älteren beobachtete Frau den durch einen behandschrifteten Zettel offensichtlich für sie reservierten Tisch in Besitz nahm. Der widerspenstige und deshalb nur halb geschlossene Regenschirm landete schließlich unter ihrem Tisch eine Tropfenspur zeichnend auf dem geteerten Parkettboden. Er wird sich während des Gesprächs der beiden Männer noch einige Male – geräuschbegleitet und diese immer weniger irritierend – öffnen, um dann von der Besitzerin mit immer geübterer Kleinmut abermals unvollständig zusammengefaltet zu werden.
„Aber …”, plötzlichte der Jüngere mitten in die akustische Nische ihres lokalen Schweigens, das im allgemeinen Kaffeehausgemurmel für die übrige Welt untergegangen war,
„aber dann hat ja jeder eine andere in seinem Kopf.“
Er schüttelte seinen nach der Hypothese seines Gesprächspartners mit ‚Ihr‘ gefüllten Kopf und ungläubigte: „Dann wäre ‚Sie‘ ja für den Einen Dies und für den Anderen Das. Es muss doch Verbindliches geben, das dem einfachen Menschen sagt: Das ist Eine und das ist Keine!“
Der Ältere öffnete kurz die gefalteten Hände wie beim Segen des Priesters der zu Ende gelesenen Messe und oberlehrerhaftete: „Das Verbindliche ist das grundsätzliche Problem, mit dem wir es in unserem Fach zu tun haben. Aber man hat sich in der Tradition auf einen Kanon geeinigt, der eine gewisse Zeit bewahrend weitergegeben und nur sehr langsam verändert wird.“
„Und wer tradiert und verändert?”, ratloste der Jüngere, während er den durch seine Hand gestützten Kopf aus der bisherigen Waagrechtigkeit nach links neigte.
„Man muss sich an die Regeln halten. Die Regeln zuallererst!”, vehementete sein Gegenüber. „Die Regeln!“
Der Ältere schloss dabei die zuvor beim Wort „Regeln“ dreimal kurz geöffnete Stellung seiner Arme, die nun wieder die des großen ‚A‘ einnnahmen. Dann nachdenklichte er, beinahe zögernd: „Wir Wissenschaftler …“
Er nachdrücklichte eine kleine Pause und salbungsvollte: „Früher war ‚Sie‘ ein Zeichen für Gelehrsamkeit schlechthin und übernahm in den Debatten der gehobenen Schichten die Rolle der Religion.“
„Und die Abertausenden, die heutzutage täglich danach greifen?”, skeptischte der Jüngere. „Die kümmern sich doch nicht um die Regeln!“
„‚Sie‘ ist kein Massenphänomen!” elitierte der Ältere, „eher das Gegenteil. Was die Masse schätzt, gehört über kurz oder lang nicht dazu. Hier herrscht Prostitution an den Zeitgeist.“
Er machte eine Pause, öffnete einige Male das ‚A‘ seiner Arme ein wenig und schloss es wieder, als ob er damit die Endgültigkeit seiner Worte unterstreichen könnte. Dabei glitt sein Blick hinüber zu der Frau mit den langen blonden Haaren, die am Nebentisch in ihrer Tageszeitung von einer Seite zur nächsten geräuschvollte.
Wieder schwiegen die beiden eine Weile. Der Regenschirm nutzte die Chance und eröffnete nun seinerseits den Diskurs mit seiner dazu zeitungsherablassenden Besitzerin und füllte das Diskursinterregnum der beiden Männet. Der Jüngere nippte an dem Glas, das neben seiner Kaffeetasse stand und inzwischen lauwarmes Wasser enthielt. Er pischwarmte dabei den Mund, der sich gegen das vom häufigen Geschirrspülern mattierte Glas mimisch zu sträuben schien.
„Früher bekam man hier von Zeit zu Zeit frisches Wasser”, verächtlichte er den Verfall der Sitten.
„Früher …”, mildete der Ältere seufzend, was zu seinem bisherigen pastoralen Gesprächshabitus passte und sein Gegenüber daher nicht überraschte, „früher hatte man noch Stil.“
Wieder öffnete er die gefalteten Hände, eher entschuldigend denn segnend, und nachdrücklichte beinahe seufzend: „Stil.“
Der Jüngere nachdenklichte, den Gesprächsfaden wieder aufnehmend: „Ich war immer der Ansicht, dass ‚Ihr‘ Kanon im Wesentlichen im Gebrauch festgelegt wird.“
„Eine Abstimmung mit den Füßen? Das ist nicht Ihr Ernst!” heftigte der Ältere, dieses Mal, ohne die Position seiner Arme zu verändern, während sich die Empörung in seinen Augen verinnerlichte.
„‚Sie‘ war einst ein Synonym für das Wissenschaftliche schlechthin. Aber diese Deutschen mit ihren Rübe-ab-Bedeutungseinengungen …”, verächtlichte der Ältere, während seine rechte Hand sich aus dem aufgestützten ‚A‘ löste und wie ein Henkersschwert in die Nähe seines leergetrunkenen Wasserglases dieses gefährdend zuckte, das auf dem verkratzten, blechernen Tablett auf einer dünnen, durchweichten Serviette stand. „Dadurch lässt sich ‚Ihre‘ Bedeutung heute ja so schwer eingrenzen. Die einstmals hochstehende fachliche Diskussion ergeht sich in unseren Zeiten mehrheitlich in nutzlosen, wortklüngelnden Debatten über die verschiedensten Definitionen der Sache selbst”, lautete er so vehement, dass die Frau vom Nebentisch irritiert, beinahe kopfschüttelnd geblondet die Zeitung sinken ließ und zu ihnen herüber unwirschte. Ihr Regenschirm schien sie in diesem Moment höflicherweise zu verschonen, um ihrer Irritation Nachdruck zu verleihen beziehungsweise sich nicht in diese einzumischen.
„Wird nicht manchmal aus dem modischen Ausnahmefall irgendwann doch der Regelfall?”, verbindlichte der Jüngere, um danach dennoch seine These weiterzuführen. „Ich denke da an …“
„In manchen nationalen Traditionssträngen ist ‚Sie‘ vielleicht im Kern Überlieferung – aber es gibt Grenzen, lieber Freund. Grenzen”, jovialte der Ältere, dieses Mal ohne eine Änderung seines ärmlichen ‚A‘.
„Aber die Grenzen sind doch wie ‚Sie‘ selber auch nur in den Köpfen der Menschen, oder?”, ironischte der Jüngere mit einem beinahe triumphierenden Nebenton, der seinem Gegenüber nicht verborgen blieb.
„Das ist doch Sophismus, junger Freund, purer Sophismus. Wir reden hier von ‚Ihrer‘ Definition im „engen Sinn”, und die ist gegenstandsgemäß arbiträr und zirkulär angelegt”, vehementete er abermals. „Über das andere, was der Mann von der Straße darunter versteht, mag man in Talkshows streiten”, sänftigte er.
„Aber ist das nicht der Beweis dafür, dass ‚Sie‘ es bisher nicht einmal zuwege brachte, ihren Forschungsgegenstand klar zu definieren?“
„Au contraire! ‚Sie‘ ist doch selbst die Anbieterin des Streits um ‚Sie‘ geworden.“
„Doch längst ist es nicht mehr die Wissenschaft allein, in der ihr Diskurs stattfindet, sondern jede Interessensgruppe bringt heute ihre eigene Perspektive ein.“
„Und was bringen diese Debattierklubs der modernen unaufgeklärten Gesellschaft? Was bringt diese öffentliche Inszenierung? Diese Verbreiterung des Banalen? Diese …”, hochnäsigte er ein wenig verhaltener.
„‚Sie‘ muss aber doch einen Streit über ‚Ihre‘ Rolle in der Gesellschaft zulassen, oder sind Sie da anderer Meinung?”, demokratischte der Jüngere. Wie um das Argument zu unterstützen, öffnete sich der Regenschirm am Nebentisch mit einem diesmal den akustischen Kaffeehaushintergrund vehement durchdringenden Quietschgeräusch, um von der Besitzerin wie schon zuvor in seine Schranken gewiesen zu werden.
„Aber es ist doch Expertise notwendig, junger Mann”, gönnerhaftete der Ältere. „Expertise, die Sie doch zweifelsohne besitzen.“
„Ich bin nur gegen die Exklusivierung in den universitären Seminaren …”, deutlichte der Jüngere.
„Davon halte ich auch nichts, denn eine gewisse Durchlässigkeit muss gegeben sein. Aber Wissenschaft ist heute ohnehin schon so öffentlich geworden, dass jede Putzfrau ihre Meinung dazu hat, und diese – horribile dictu – auch in jedem Privatsender kundtun kann.“
„Sie halten eine pluralistisch angelegte Diskussion über ‚Sie‘ für gefährlich?“
„In gewissem Sinne ist alles durch einen permanenten Allerweltsdiskurs kaputtbar. Daher halte ich die staatliche Funktion des Diskursbeobachters für ganz wesentlich.“
„Sie reden der Zensur das Wort? Das ist doch wohl nicht ihr Ernst!“
„Wer redet von Zensur? Aber manches kann man einfach nicht der Demokratie überantworten. Wissenschaft schon gar nicht”, pathetischte er, während sein Blick abermals zu der blonden Frau am Nebentisch schweifte, die sich jetzt scheinbar unberührt vom Gespräch der beiden hinter ihrer Tageszeitung verrosate. Der Schirm schwieg.
„Ihnen schwebt wohl der Diskurs in geschlossenen Zirkeln wie im 18. Jahrhundert vor, als Wettkämpfe veranstaltet wurden.“
„Innerhalb der scientific community macht ein Wettstreit der besten Ideen Sinn, solange es nicht im Inzest mündet.“
„Institutionalisierung ist auch eine Möglichkeit, etwas umzubringen”, zynischte der Jüngere.
„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Oder hängen Sie Poststrukturalisten wie Barthes an, denen Alles Alles ist? Wissenschaftler müssen heute dringender denn je, um nicht zu sagen notgedrungen, andere Wissenschaftler davon abhalten, im eigenen Forschungsfeld als Experten aufzutreten. Wenn man sein Territorium nicht absichert …“
Der Ältere blickte dabei auf die Uhr an seinem linken Handgelenk, ohne zunächst das ‚A‘ zu öffnen.
„Ich habe einen wichtigen Termin, Herr Kollege. Aber es findet sich sicherlich eine Gelegenheit, unser interessantes Gespräch fortzuführen.“
„Sie können mir ihre Antwort ja twittern.“
Die Augen des Älteren hielten nach dem Kellner Ausschau.
„Zahlen”, lautete der Jüngere. „Zahlen.“
Ein Kellner gemächlichte sich herbei und fragte: „Im Ernst?“
Der Ältere warf einen seufzenden Blick zu der blonden Frau und öffnete das ‚A‘ seiner Hände endgültig, ohne es jemals wieder zu schließen.
Der Regenschirm setzte einen Schlusspunkt und sah den beiden Männern mit einem geräuschvollen Öffnen nach, als diese sich Richtung Ausgang bewegten.
Als der Kellner das Geschirr vom Tisch der beiden abservierte und die Marmorplatte mit einem Schwammtuch von Kaffeespritzern, Wassertropfen und herabgefallenen Wörterresten reinigte, kurzentschloss sich der Regenschirm, den provozierenden Diskurs mit seiner Besitzerin bis zu deren Verlassen des Lokals einzustellen.