Burn out

Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Wie jeden Tag führte ihr erster Weg ins Badezimmer. Ihre Hände zitterten, als sie die Tabletten aus der Verpackung drückte. Drei, vier. Sie zählte sie nicht, so als ob ihr Körper wüsste, wie viele sie braucht, um sich zu befreien. Sie fühlte den Widerstand, als die Tabletten die Kehle passierten. Noch einen Schluck.

Langsam ging sie ins Wohnzimmer und legte sich auf die Couch. Sie schloss die Augen und hoffte, die Bilder und Gedanken würden verschwinden und mit ihnen die Welt, aus der sie jeden Tag flüchtete. Die Gedanken wurden allmählich heller: War nicht wieder ein Tag geschafft? War das nicht etwas, das man in seinem Leben abhaken konnte? Sie wusste, in einer Stunde würde sie wieder funktionieren. Musste sie funktionieren. Das Abendessen für die Kinder, die aus der Schule nach Hause kommen, später vielleicht ein Lächeln oder zumindest ein Wort für den Mann, der sich erschöpft von der Arbeit vor den Fernsehapparat setzen wird. Alles würde wie jeden Tag sein. Keine Frage danach, ob ihre Beine noch lange mitmachen, das schmerzende Knie, das sie untersuchen lassen sollte. Es würde wie jeden Tag sein. Und nach den Tabletten tat das Knie auch nicht mehr so weh vom Stehen hinter der Theke in der Wurstabteilung. Sie sollte freundlicher sein, hatte heute der Geschäftsführer gesagt. Lächelndes Nachfragen fördert den Umsatz und dadurch indirekt ihren Lohn. Er hätte beobachtet, dass sie mehrmals darauf vergessen hätte. Sie sollte sich einen Zettel an die Waage kleben, damit sie nicht darauf vergäße. Es gäbe genug Frauen, die froh wären, ihren Job zu haben. Hatte er nicht „jüngere Frauen“ gesagt?

Die Unruhe verschwand aus dem Schmerz. Er wurde dumpfer und regelmäßiger. Damit man sich an ihn gewöhnen kann. Nächste Woche würde sie zum Arzt gehen. Heimlich in der Mittagspause. Wer zum Arzt geht, muss krank sein. Und wer krank ist, funktioniert nicht richtig, hatte ihr Arbeitskollege gesagt, der an der Frischfleischtheke arbeitete. Er hatte sie im Lager von hinten gegen ein Regal gedrängt und versucht, ihre Brust zu berühren. Zum Glück kam die Backwarenverkäuferin, um nach der Menge an Gebäck für die Wurstsemmeln zu fragen. Sie musste etwas gemerkt haben. Aber sie sprach es nie an. Obwohl dieser Vorfall schon Monate zurücklag, erinnerte sie sich jeden Tag daran. Sie vermied seither Situationen, in denen sie mit dem Fleischer allein war. Sie solle nicht so anstellen, hatte er gesagt. Und wenn sie es dem Geschäftsführer erzählte, wären ihre Tage hier gezählt. Sie wusste, dass er mit dem Geschäftsführer schon lange per Du war. Am nächsten Tag hatte er wie unabsichtlich das sorgfältig vorbereitete Tablett mit Aufschnitt vom Tisch gestoßen, sodass sie alles neu vorschneiden und arrangieren musste. Wenn sie ins Kühllager musste, schaute sie zunächst in die Fleischabteilung, ob ihr Kollege auch beschäftigt war, dennoch klemmte sie einen Holzkeil unter die angelehnte Tür. Sie hatte auch vergeblich versucht, die Schicht mit ihrer Kollegin zu tauschen, mit der sie sich an der Wursttheke abwechselte.

Sie sollte das Radio aufdrehen, dachte sie, denn in der Stille, die ihr in der ersten Viertelstunde zu Hause so erlösend erschienen war, begann sie ihr Atmen zu hören und ihren Pulsschlag zu fühlen. Die Tabletten begannen zu wirken. Sie bliebt liegen, denn jede Veränderung brächte eine Ungewissheit, stellte neue Fragen.

Zum Betriebsrat zu gehen war nicht erwünscht. Das Arbeitsklima sei mustergültig, hatte der Betriebsrat bei der letzten Versammlung gesagt, er habe für die Anliegen der Kolleginnen und Kollegen immer ein offenes Ohr. Auch er war mit dem Geschäftsführer befreundet. Als Zeichen des guten Arbeitsklimas, wie er es nannte. Weil er mehr für sie alle erreichen könnte.
Wie viele Jahre noch? Solange die Kinder in die Schule gehen und uns auf der Tasche liegen, brauchen wir das Geld, hatte ihr Mann entschieden. Sie war schon früh nach der Geburt des zweiten Sohnes arbeiten gegangen, obwohl sie noch in Karenz hätte bleiben können. Sonst müssen wir eben den Urlaub streichen, und du weißt, wie sehr sich die Kinder jedes Jahr darauf freuen.
Die Kälte, die aus dem Kühlregal jeden Tag um ihre Beine floss, spürte sie schon lange nicht mehr. Vielleicht dämpfte die Kälte den Schmerz im Knie. Oder war sie neben dem stundenlangen Stehen dafür mit verantwortlich? Die Hygienehandschuhe aus Plastik ließen ihre Finger immer häufiger anschwellen und sie versuchte, diese so oft wie möglich auszuziehen. Aber sie fürchtete den Blick des Leiters der Lebensmittelabteilung, der sie mit seiner Kopfhaltung allein zu fragen schien, ob sie nicht etwas vergessen hätte. Jetzt auf der Couch fühlten sich ihre Hände noch immer kalt an, auch wenn das Rot der Schwellung allmählich verschwand. In der letzten Nacht war sie von dem Schmerz aufgewacht, als sie auf ihrem rechten Arm gelegen war, und der sich jetzt kalt und fremd anfühlte. Es war ein seltsames Gefühl, den eigenen Arm zu berühren wie den eines Anderen. Sie fühlte die Berührung nur in den Fingerspitzen, die den Ellbogen der tauben Hand umfassten. Das war in der letzten Zeit schon einige Male passiert. Das kann schon vorkommen, hatte ihr Mann gesagt. Musst dich halt richtig hinlegen. Mit der linken massierte sie den Arm, bis sie ihn wieder spürte. Sie musste dabei leise sein, um ihren Mann nicht zu stören, der am nächsten Morgen früh aufstehen musste. Sie würde sich vor dem Schlafengehen mit einer Massagecreme einreiben, um die Durchblutung zu fördern. In ihrem Alter wäre das nichts Ungewöhnliches, hatte der Apotheker gesagt. Durchaus nichts Ungewöhnliches.

Morgen gehe ich zum Arzt, dachte sie, und wusste gleichzeitig, dass sie doch wieder einen guten Grund finden würde, es nicht zu tun. Sie war zu müde geworden, um neben ihrer Arbeit für die Familie auch noch dafür Zeit zu investieren. Sie funktioniert doch. Dank der Tabletten. Und der Kinder. Bei diesem Gedanken lächelte sie. Die Kinder. Der Kleinere hatte heute eine Schularbeit gehabt, für die sie mit ihm gelernt hatte. Der Altere machte ihr mehr Sorgen, denn er war in einem Alter, in dem alles andere als die Schule wichtig war. Sie versuchte sich an diesen Zeitabschnitt in ihrem Leben zu erinnern. Als sie eine Lehre beginnen wollte. Sie wollte Golfschmiedin werden. Der Lehrer hatte ihr wegen der zeichnerischen Begabung dazu geraten. Aber die Fachschule war zu weit weg gewesen, und ihre Eltern konnten neben dem Geld für das Studium ihres Bruders nicht auch noch für das notwendige Internat aufkommen. Sie hatte als Hilfsarbeiterin in einer nahen Fabrik begonnen und dort auch ihren Mann kennengelernt. Sie hatten früh geheiratet, denn das erste Kind war unterwegs. In der Kleinstadt, in der sie lebten, musste alles seine Ordnung haben.
Sie wäre beinahe eingeschlafen bei diesen vertrauten Erinnerungen, die sie jeden Tag nach dem Nachhausekommen einholten. Ihr kleines Leben – ihr Bruder, der in der Hauptstadt lebte, hatte bei ihrem letzten Geburtstag gesagt, dass er sie um dieses „kleine Leben“ beneide – tanzte episodenhaft an ihr vorbei. Sie hatte es doch gut. Es gab andere, denen es doch viel schlechter ging. Sie konnten jedes Jahr auf Urlaub fahren und auch der Schikurs für die Kinder ging sich aus. Ich muss noch das Wohnzimmer aufräumen, schoss es ihr durch den Kopf, als sie die leere Chip-Packung neben sich auf dem Tisch liegen sah. Sie wollte sich aufrichten. Du bist doch ohnehin schon zwei Stunden vor mir zu Hause, hatte ihr Mann einmal gesagt. Was tust du denn die ganze Zeit? Das bisschen Putzen. Die Erinnerung an seine Worte drückten sie auf die Couch zurück. Auf einmal waren alle Gedanken weg. Ihr Gehirn arbeitete zwar auf Hochtouren, aber sie konnte keinen der herumschwirrenden Gedanken fassen. Der Strom der Bilder, Worte, Erinnerungsfetzen und Gefühle riss sie mit sich und schien sie weiter und hinunter zu ziehen. Sie kämpfte nicht dagegen an.

Auf einmal Stille in ihr. Was wäre, wenn alles vorbei wäre? Wenn sie weit fortgehen könnte. Noch einmal das Leben von vorne anfangen. Ihr Leben. Ein klein wenig größeres vielleicht. Wenigstens einige ihrer Träume verwirklichen. Die Lehre. Die Reise nach …
Es klingelte. Das werden die Kinder sein.


Veröffentlicht in der Alberndorfer Anthologie Nr. 11, Verlag Freya, Linz, 2019, S. 26-31.


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