Für Maria.
Jeden Samstag nahm sie vor dem Schlafengehen ein Bad. Sie hatte wie immer an diesem Wochentag den Einkauf erledigt, die Wohnung ein wenig aufgeräumt, eher oberflächlich geputzt, dies und das für den Montag vorbereitet, sodass der Sonntag allein ihr gehören konnte. Sie hatte nie Pläne für diesen letzten Tag der Woche, denn diese war berufsbedingt ohnehin von Terminen und Aufgaben ausgefüllt gewesen, sodass es befreiend war, einmal nichts zu planen und nichts zu erwarten.
Sie zündete im Bad zwei Kerzen an, streute Meersalz in die Wanne, wählte ein Schaumbad, das sie auf dem Badewannenrand sitzend beim Einlassen des Wassers langsam in den Strahl mischte. Den Überlauf dichtete sie mit einem Vliestuch ab, damit der Wasserspiegel ein wenig höher sein und sie bis dicht an das Kinn im Wasser liegen konnte.
Sie ging in das angrenzende Schlafzimmer, legte ihr Nachthemd auf das einladend aufgeschlagene Bett. Ohne Eile zog sie ein Kleidungsstück nach dem anderen aus. Ins Bad zurückgekehrt machte sie das grelle Licht aus, prüfte kurz die Temperatur des Wassers. Sie band ihr schwarzes schulterlanges Haar hoch, damit es nicht vom Schaum nass werden konnte. Sie drehte den Wasserhahn ab, schlüpfte aus ihren Hausschuhen und stieg von einem entspannten Aufatmen begleitet in das wohlig weiche Wasser.
Sie schloss die Augen. Die Welt konnte jetzt draußen bleiben.
Sie liebte dieses kerzenscheinbegleitete Ritual zum Abschluss einer arbeitsreichen Woche, mit dem sie alles hinter sich lassen konnte. Ihre Nasenflügel vibrierten, als sie vom warmen Wasser umflossen dem Duft von Sandelholz und Blutorange nachspürte.
Sie öffnete entspannt die Augen und ließ absichtslos den Blick über die Fliesen an der gegenüberliegenden Wand gleiten. Ihre Augenbewegung stockte, als sie einen kleinen dunklen Punkt entdeckte. Bewegte er sich? Nein. Sie wusste, dass wenn man im Halbdunkel einen solchen Punkt über einen längeren Zeitraum fixiert, er sich aufgrund der Augensakkaden irgendwann scheinbar zu bewegen beginnt. Es ist dann unentscheidbar, ob es sich um einen festsitzenden Spritzer der Wimperntusche oder einen winzigen Käfer handelt, der sich in das Bad verirrt hat.
Sie schloss die Augen. Sie wollte einfach weiter das warme Wasser, das sie zärtlich umfing, genießen und alle Gedanken ausschalten.
Irgendetwas zwang sie, die Augen wieder zu öffnen und nach dem Punkt zu suchen, den sie zuvor an der Wand gefunden hatte. Hatte er sich bewegt? War er jetzt nicht auf einer Fliese weiter unten? Sie schüttelte den Kopf. Nein, das bildete sie sich nur ein. Wieder schloss sie die Augen, dieses Mal nur kurz, um sich doch zu vergewissern, dass es die dritte Fliesenreihe von unten gewesen war, auf der sie den Punkt entdeckt hatte. Aber war der Punkt jetzt nicht ein wenig näher am unteren Ende der Fliese, knapp an der dunkelbraunen Fuge?
Es muss ein Käfer sein, dachte sie. Einer jener kleinen Brot- oder Getreidekäfer, die im Sommer bei geöffneten Fenstern einen Weg in die Wohnung finden.
Das Badewasser schien ihr ein wenig kühl geworden oder vielmehr hatte sich ihr Wärmeempfinden an die Temperatur angepasst, sodass sie den Warmwasserhahn aufdrehte und einen dünnen Strahl heißen Wassers nachlaufen ließ. Sie genoss es, unter der Wasseroberfläche dieses heißere Wasser nahe an ihrem Schenkel zu fühlen, das sich von unten beginnend allmählich in der Wanne zu verbreiten begann.
Der Punkt an der Wand gegenüber war verschwunden. Da entdeckte sie, dass sich dieses Insekt inzwischen an das Fußende der Wanne bewegt hatte, wo es am marmornen Rand der Badewanne zu verharren schien.
Während ihre Augen dem krabbelnden Tier folgten, überlegte sie, ob sie einen neben der Badewanne liegenden Hausschuh nehmen sollte, um diesem Käfer den Garaus zu machen. Nein. Sie würde lieber nach dem Bad den Tischstaubsauger holen und das Insekt einsaugen, wie sie es üblicherweise tat, wenn sie eines in ihrer Wohnung entdeckt hatte. Schließlich ersparte sie sich dadurch das dann notwendige Entfernen der Überreste. Außerdem brauchte sie kein schlechtes Gewissen zu haben, das sie seit ihrer Kindheit immer dann empfand, wenn sie ein Lebewesen in ein Totwesen verwandelte. Sie benutzte prinzipiell keine Fliegenklatsche oder gar einen Insektenstecker. Der Staubsauger war das Äußerste.
Inmitten dieses Gedankens sah sie, dass sich das krabbelnde Wesen ihrer Hand genähert hatte, die mit dem Unterarm auf dem marmornen Rand der Badewanne lag. Ich muss das Wasser abdrehen, dachte sie und wollte die Hand heben. Wollte. Aber es schien ihr, als ob ihre Hand mit dem Marmor verschmolzen wäre. Ich muss das Wasser abdrehen, dachte sie erneut. Und abermals gelang es ihr nicht, den Arm und die Hand zu bewegen. Irgendetwas schien ihren Körper im Augenblick und Sosein festzuhalten, etwas, das unmerkbar in sie eingedrungen war und erstarren ließ.
Während ihr dieses Gefangensein immer deutlicher in die Gedanken einfloss, wurde es im Badezimmer nach einem zwei, drei Sekunden langen Aufleuchten dunkler als zuvor. Eine Kerze war erloschen. Zum Glück gab die zweite Kerze, hinter ihr auf dem Waschbecken stehend, noch Licht.
Sie starrte weiter auf das Tier, das sich nun ihrer Hand näherte. Sie wollte die Hand wegziehen … vergeblich. Ihre Hand gehorchte nicht den Befehlen, die ihr Gehirn aussandte. Sie wünschte sich beinahe flehentlich, dass ihr die Muskeln des Armes gehorchten, wollte den Befehl schreien … Beweg‘ dich doch! Aber auch ihre Stimme versagte, sie konnte die Lippen zu keinem Schrei öffnen.
Das Insekt war nun kurz verschwunden, aber sie fühlte, dass sie etwas zwischen dem kleinen Finger und dem Ringfinger berührte. Da war das Tier wieder zu sehen, das nun den Ringfinger entlang über ihren Handrücken und dann an der Oberseite ihres Unterarms langsam weiter krabbelte. Sie wollte das Tier abschütteln, aber sie blieb erstarrt wie der Marmor, auf dem ihr Arm ruhte.
Die seltsam getakteten abwechselnden Berührungen der sechs Insektenbeine waren deutlich zu spüren. Eins, zwei, drei … vier, fünf, sechs … Sie hielt den Atem an, genauer, er wurde angehalten. Ihr Atmen war gefangen wie ihr ganzer Körper, der sich von ihrer willentlichen Kontrolle gelöst hatte. Das nachfließende Wasser hatte die Temperatur schon so weit erhöht, dass es wohl schmerzhaft gewesen wäre, bei dieser in die Wanne zu steigen. Aber durch die Langsamkeit des Nachflusses hatte sich der Körper allmählich daran gewöhnt. Sie fühlte zwar noch den Temperaturkontrast zwischen dem auf dem Wannenrand liegenden Arm und ihrem im Wasser liegenden Körper, aber ihre Gedanken galten allein dem unaufhaltsamen Krabbeln an ihrem Oberarm. Eins, zwei, drei … vier, fünf, sechs … eins, zwei drei … vier, fünf, sechs … Oder war es ein eins, zwei, drei … eins, zwei, drei?
Da sie ihren Kopf nicht drehen konnte, folgten allein die Augen dem Insekt. Das schien kurz innezuhalten und erreichte schließlich die Schulter, wodurch es aus ihrem Sichtfeld verschwand. Aber sie wusste, dass es dort war, auch wenn der Druck der sechs Beine eigentlich zu gering war, um wahrgenommen zu werden. Wieder verharrte das Tier für einige endlos erscheinende Sekunden, bis es sich zu ihrem Hals weiterbewegte. Eins, zwei, drei … vier, fünf, sechs … Dort würde es im Wasser landen und ersaufen, hoffte sie auf Befreiung.
Die zweite Kerze begann wie die erste kurz zu pulsieren, die Flamme bäumte sich vor ihrem Verlöschen noch einmal zu einem tanzenden Flackern auf … und erlosch.
Die Dunkelheit schien nun völlig leer, auch wenn das leise Eintauchen des nachfließenden Wassers an ihre Ohren drang. Aber durch die nach und nach geringere Fallhöhe war es beinahe lautlos geworden. Dieses Leiserwerden schien die Finsternis noch zu verstärken. Sie spürte, wie sich Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten, von ihrer Stirn über die Wangen und das Kinn liefen, das inzwischen von der Wasseroberfläche erreicht worden war.
Da fühlte sie, dass sich das Insekt nun knapp oberhalb der Wasseroberfläche entlang ihres Halses weiterbewegte. Eins, zwei, drei … vier, fünf, sechs … eins, zwei drei … vier, fünf, sechs … Ein kurzes Innehalten. Dann wieder: eins, zwei, drei … vier, fünf, sechs. Sie konnte nun nicht einmal mehr ihr eigenes Atmen wahrnehmen.
Da gesellte sich ein anderes Geräusch hinzu, denn das Wasser hatte den Rand der Wanne erreicht und lief nun außen an den Fliesen auf den Boden des Badezimmers.
Da geschah Seltsames. Das Tier an ihrem Hals hatte anscheinend den Wasserspiegel überwunden und krabbelte weiter nach unten. Eins, zwei, drei … vier, fünf, sechs … eins, zwei drei … vier, fünf, sechs … Zwar waren die Berührungen der Insektenbeine im Vergleich zur Bewegung an ihrem Hals weniger deutlich zu spüren, aber sie konnte mit Gewissheit wahrnehmen, dass das Tier sich zwischen ihren Brüsten langsam Richtung ihres Nabels abwärts bewegte. Eins, zwei, drei … vier, fünf, sechs … eins, zwei drei … vier, fünf, sechs …
Noch seltsamer: Es war ihr, als ob sie das alles nicht mehr an sich selbst erlebte, sondern dass sie sich vom Ablauf des Geschehens distanzieren konnte, sich im Fühlen auch gleichzeitig beobachten konnte. Als ob sie die Bewegungen des Insekts nicht nur spüren, sondern auch den Takt vorgeben konnte. Eins, zwei, drei … vier, fünf, sechs … eins, zwei drei … vier, fünf, sechs … Als ob sie mit diesem Tier verbunden wäre. Eins, zwei, drei … vier, fünf, sechs … eins, zwei drei … vier, fünf, sechs … Dass sie schließlich mit dem Wasser eins wurde, das weiter über den Wannenrand auf den Boden des Badezimmers floss. Es erfüllte sie in diesem Fließen ein Gefühl großer Leichtigkeit.
Noch einmal: Eins … zwei, … drei … … vier ……… fünf ……
Veröffentlicht in Sabine Brandl & Gisela Weinhändler (Hrsg.): ANXT. S. 139-143. muc-Verlag, München.
(Psycho-)Thriller, Horror und Mystery
30 spannende Kurzgeschichten, die den Puls hochtreiben und den Atem stocken lassen!
Neben riesigen Spinnen, rache- und blutdurstigen Vampiren, schaurigen Untoten und mörderischen Psychopathen tauchen in diesem Buch aber auch scheinbar »normale« Leute auf, deren seelische Abgründe, Obsessionen, (Un-)Tiefen und Albträume für reichlich Gänsehaut sorgen.
Die Schauplätze sind vielseitig: Eine Höhle im Wald, die Katakomben von Paris, eine Tank– und eine Bushaltestelle, ein Supermarkt oder schlicht das eigene Ehebett oder die Badewanne …
Alles in allem: In diesem Buch finden Sie viele spannende, atemberaubende, schaurig-schöne und kurzweilige Lesemomente!