„Brennt gut!“ sagte der alte Mann zu dem flackernden Schatten, der hinter ihm kauerte, während er mich in die knisternde Glut des Ofens schob.
Seltsam, ich hatte diesen Moment mein ganzes Leben lang mit einem Bangen vor etwas Ungewissem erwartet, aber nun, da es so weit war, fühlte ich eher ein Gefühl der Erleichterung. Die Hitze, die mich umfing, verwandelte sich nach und nach in ein strahlendes Leuchten, das mich noch einmal zu streicheln schien. Zu streicheln wie damals …
Zu streicheln wie damals, als die schwielige Hand des Drechslers prüfend und zufrieden über meine glatte Oberfläche strich, ehe sie mich aus dem Spindelstock nahm und beinahe zärtlich zu meinen drei Geschwistern legte. Das muss wohl so etwas wie meine Geburtsstunde gewesen sein, wie mir später bewusst wurde. Als Letztgeborener unter Vieren. Letztgeborene besitzen oft besondere Gaben, die auch mir mitgegeben worden sein mussten. Gaben, die mein Leben anders als das meiner Geschwister verlaufen ließ.
Auch wenn es eine Vorzeit vor dem Spindelstock gegeben haben musste, wie ich später erfuhr, hatte diese Zeit nur spärliche Spuren hinterlassen. Dennoch, aus dieser Vorzeit regten sich an seltenen Tagen Spuren von Erinnerungen, besonders des Nachts, wenn es still um mich herum war. Dann war mir, als hörte ich ein sanftes Rauschen über mir, das mich in verschwommene Bilder und Geräusche sinken ließ.
Ich besitze nur wenige Erinnerungen an jene erste Zeit, als ich einfach da war, bedürfnis- und gedankenlos, kaum meiner Existenz bewusst. Erst als ich aufrecht Teil eines Ganzen geworden war, geordnet stehend mit meinen Geschwistern, hatte das begonnen, was Menschen ein Leben nennen. Deutlicher schon sind meine Erinnerungen daran, dass ich auf einem von Pferden gezogenen Wagen mit meinen drei Geschwistern, die von nun an mein mehr oder minder ganzes Leben lang in definiert gleicher Entfernung von mir stehen sollten, über holprige Straßen zu einem Haus in der Vorstadt gebracht wurde.
Alles war in diesen Tagen neu für mich und ich hatte keine Namen für die Ereignisse und Dinge, die mich umgaben und mir widerfuhren. Ich erlebte die erste Zeit und auch diese Fahrt ausschließlich als ein Bewegtwerden, ein Ausgeliefertsein. Damals wusste ich freilich nicht, was ein Wagen ist, ein Pferd oder eine Straße, die mit Pflastersteinen belegt ist. Ich wusste damals nicht einmal, was oder wer ich war, wozu ich auf und in der Welt war, die sich mir von Tag zu Tag allmählich erschloss. Rückblickend verbrachte ich die meiste Zeit meines Daseins in diesem einstöckigen Haus, in das mich der Pferdewagen transportiert hatte. Durch ein großes Tor, einen langen Gang, über Stiegen, von kräftigen Menschen getragen …
Ich fühlte damals schon, dass es eine Bestimmung gab, die darüber hinaus ging, nur zu sein. Nur einer unter Vieren zu sein. Ich saugte alle Eindrücke in mich auf, lauschte den Bewegungen, den Geräuschen und später den Worten, die die Menschen in meiner Nähe gebrauchten.
Menschen.
Menschen war ich zugeeignet worden. Zwei Menschen, die vor kurzem geheiratet hatten. Die eine kleine Zimmer-Küche-Wohnung in der Vorstadt bezogen hatten. Gleich nach ihrer Hochzeit hatten M. und F. mich und meine Geschwister von einer Frau geschenkt erhalten. Ich spann mir mit der Zeit aus Bruchstücken der Erfahrung eine Geschichte, nach der es eine nahe Verwandte gewesen sein musste, die das junge Paar unterstützen wollte, aber einen Beweis wie einen Namen kann ich nicht anführen.
Die erste Zeit verbrachte ich damit, um mich in der neuen Umgebung zu orientieren, wobei meine Geschwister nicht am Leben teilzuhaben schienen, denn sie waren ihres Soseins zufrieden, waren weniger neugierig auf die Welt als ich. Obwohl sie doch alle vor mir aus dem Spindelstock genommen worden waren, sicherlich mit der gleichen Sorgfalt in diese Welt hineingesetzt worden waren. Auch eine Bestimmung hatten wie ich. Vielleicht lag es gerade daran, dass ich der Jüngste von uns Vieren war. Der Jüngste war ich und blieb ich bis zum letzten Augenblick und in alle Ewigkeit, ihnen doch gleich, denn Menschen hätten uns wohl nicht unterscheiden können. Meine Geschwister standen in immer gleicher Entfernung von mir und schenkten mir, aber auch einander, keine erkennbare Aufmerksamkeit, sodass ich eines Tages resignierte und beschloss, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Da ich an meinen Platz gefesselt war, blieb mir auch nichts anderes als Gedanken. Gedanken, die ich schweifen lassen konnte. Gedanken, die weite Reisen unternahmen in eine Welt, die ich mir aus den Worten der Menschen erschloss, die in meiner Nähe von einer Welt außerhalb dieser Wohnung erzählten. Schon damals war mir, als könnte ich auf diese Weise die Welt erobern, die sich mir eines Tages in aller Vielfalt erschließen würde. In einer fernen Zukunft zwar, aber was wusste ich damals von Zeit …
Es war vor allem M., die den ganzen Tag alleine in den fünfundzwanzig Quadratmetern arbeitete. Sie öffnete die Fenster, machte die Betten, wischte den Staub von den Möbeln. Vormittags verließ sie die Wohnung und kam bepackt nach Hause. Sie hatte Lebensmittel besorgt und begann zu kochen. Überhaupt gab es einen ziemlich geregelten Tagesablauf um mich herum. Immer wenn es hell wurde, Tag nannten sie es, die Sonne über dem Dach des gegenüber liegenden Hauses aufging und durch das Fenster nach Osten ihre wärmenden Strahlen auf mich fallen ließ, ging M. regelmäßig mit einem Seufzen an mir vorbei in die Küche und bereitete das Frühstück, das sie gemeinsam mit F. einnahm. M. saß stets auf der Küchenseite, sodass ich ihre nackten Beine unter dem Nachthemd sehen konnte, die in plumpen Hausschuhen steckten. F., der mich manchmal mit seinem rechten Fuß streifte, wenn er beim Frühstück saß, brach meist nach kurzer Zeit auf, um in die Arbeit zu fahren. Eines Tages wurde das morgendliche Frühstück in die Küche verlegt. Gegessen wurde in meiner Nähe nur noch an Sonntagen, was ein besonderer Tag sein musste, denn F. blieb nach dem Frühstück zu Hause, setzt sich manchmal zu mir, und ich hörte, wie er in einer Zeitschrift blätterte.
Die meiste Zeit verstellte mir nun ein Stoffvorhang die Aussicht auf das gesamte Zimmer, sodass ich mir nur auf Grund der Geräusche eine Vorstellung davon machen konnte, was um mich herum vorging. Aus dieser Zeit blieben mir vor allem Gerüche in Erinnerung, die aus der Küche zu mir drangen, wenn M. während des Kochens ins Wohnzimmer kam. Es gab Gerüche, die ich genoss, andere, die weniger angenehm waren. Aber es war mein Leben und so sagte ich mir, dass nicht alles perfekt sein kann.
Vieles änderte sich, als W. kam.
Zunächst war es der Tagesrhythmus, oder besser: der Nachtrhythmus, der sich änderte. Kaum waren alle im benachbarten Bett schlafen gegangen, weckte das Schreien W.s sie wieder auf, wobei dann M. aufstand und im Dunkeln zu W. ging, der in einem Gitterbett neben mir schlief. Sie nahm ihn dann an ihre Brust, manchmal trug sie ihn auch nur auf und ab gehend durch die Wohnung. Die erste Zeit verbrachte W. den ganzen Tag in diesem Gitterbett, erst später begann er in der Wohnung herumzukrabbeln. Besonders liebte er es, sich hinter den Vorhang zu mir zurückzuziehen und sich von M. oder auch anderen, die auf Besuch kamen, suchen zu lassen. Besonders eine Frau namens Tante H. war am Vormittag öfter auf Besuch, wobei sie aber mit M. die meiste Zeit ihres Besuches in der Küche blieb. Was die beiden sprachen, konnte ich wegen der zischenden Geräusche, die der Gasherd in der Küche machte, nur unvollständig verstehen.
Einige Male ging W.s Verstecken bei mir auch schief, denn W. zog, um besser vor den Blicken verhüllt zu sein, den Vorhang weiter herunter, was zur Folge hatte, dass das, was sich darauf befunden hatte, auf dem Fußboden zu liegen kam. Das waren die ersten Male, dass ich erlebte, wie W. geschlagen wurde. Während M. ihn meist nur anschrie, nahm F., wenn er bei einem solchen Vorfall zu Hause war, seine Hände zur Argumentation zu Hilfe. Meist waren es Schläge in das Gesicht. War dabei etwas Wertvolles zu Bruch gegangen, dann nahm F. schon einmal den Teppichklopfer, und schlug auf das Hinterteil W.s ein. Dieser schrie dann und weinte. Meist beendete die Bitte M.s die Bestrafung. „Nimm ihn nur in Schutz!“ sagte dann F., während er das Strafgerät in der Küche verstaute.
Als W. größer geworden war, musste er bei einem Fehlverhalten F. selber den Teppichklopfer aus der Küche bringen. Ich hörte dann, wie Schläge auf das Hinterteil W.s prasselten, wobei dieser im Größerwerden immer weniger schrie und weinte. „Buben weinen nicht!“ hatte M. oft gesagt. Ich wusste nicht, was Schmerz und Tränen waren, dennoch berührte mich W.s Schicksal, sodass ich eine innere Verbundenheit mit ihm entwickelte. Er war mir näher als alle anderen Menschen.
Eines Tages verließ auch W. täglich am Morgen die Wohnung, wobei ich bald erfuhr, dass er zur Schule ging, um etwas zu lernen. Das äußerte sich vor allem daran, dass er mittags nach Hause kam und sich nach dem Essen in der Küche zu mir setzte, um an seinen Hausübungen zu arbeiten. Es war nach der ersten Zeit die harmonischste meines Lebens. Während dieser Zeit kam F. wegen Überstunden, die er für die durch W. größer gewordene Familie machen musste, manchmal erst sehr spät in der Nacht nach Hause. Er hatte das kurz nach dem Einzug W.s einmal durch den Satz „Jetzt ist der Schilling nur mehr dreiunddreißig Groschen wert!“ beschrieben. Manchmal kam F. wegen seiner Überstunden erst am nächsten Tag nach Hause. M., die immer erst nachträglich davon erfuhr, wann es solche Überstunden gab – „Wenn ich nach Hause komme, dann bin ich zu Hause!“ – begann häufig in der Nacht, nachdem sie W. zu Bett gebracht hatte, zu weinen. W. versuchte sie manchmal, wenn er durch ihr Klagen wach geworden war, zu trösten, auch wenn er damals nicht verstand, was es hieß, dass er wieder bei seiner Hure gewesen wäre.
M. sagte wiederholt zu W., dass sie nur wegen ihm dabliebe, was in ihm offenbar etwas auslöste, denn dann zog er sich mit seinem Teddybären zu mir hinter den Vorhang zurück und tröstete ihn, indem er ihm versicherte, ihn sicher nie zu verlassen. Dabei weinte er manchmal. Er hatte seinen Teddybären auch einmal geschlagen, war aber dann darüber so verzweifelt, dass er sich viele Stunden mit diesem bei mir verkroch, und zum Trost und zur Entschuldigung mit einer weichen Bürste aus eigenen Babytagen dessen Fell bürstete, was dieser mit einem Brummen quittierte.
Mit der Zeit war W. größer geworden und versteckte sich nur mehr selten bei mir hinter dem Vorhang, wie er überhaupt aufgehört hatte, zu spielen, denn die Aufgaben der Schule nahmen fast die gesamte Zeit seines Tages in Anspruch.
Eine Zeit im Jahr durchbrach die gewohnten Abläufe, in der ich von meiner üblichen Position in eine Ecke des Zimmers verschoben wurde, wo sonst ein Fauteuil stand. Mir wurde dann durch einen großen weißen Vorhang die Sicht ganz verstellt, sodass ich nur indirekt mitbekam, was sich rund um mich herum ereignete. Wie ich aus den Ereignissen schloss, wurde an einem für Menschen und vor allem Kinder besonderen Tag ein geschmückter Tannenbaum aufgestellt und festlich besungen.
Zu einer solchen Tannenbaumzeit geschah es häufig, dass mich W. hinter dem Vorhang besuchte, einmal mit einem großen Feuerwehrauto, das er hier in „seiner Garage“ abstellte, oder neben mir Schienen einer Eisenbahn verlegte, die dann ratternd „durch den Tunnel“ an mir vorbeifuhr. Der Aufbau dieser Eisenbahn war ein alljährlich wiederkehrendes Ritual, an dem auch F. beteiligt war, wobei er vor allem dafür zu sorgen schien, dass W. auch nichts an diesem teuren Geschenk kaputt machte. Einmal verschob F. beim Verlegen der Schienen den Vorhang so sehr, dass der Vorhang mitsamt dem Weihnachtsbaum auf den Boden fiel, wonach W. geschlagen wurde, weil er nicht aufgepasst hätte. Danach wurde die Eisenbahn nie mehr hinter dem Vorhang verlegt, was ich bedauerte. Aber vielleicht geschah das auch deshalb, weil W. inzwischen „zu groß dafür“ wäre, wie F. sagte. Es geschah nach meinem Wissen stets alles, was F. sagte. F. hatte immer recht.
Ein besonderer Tag meines Lebens begann wie die durchschnittlichen Tage zuvor. F. war früh aus dem Haus gegangen, W. in die Schule aufgebrochen, M. hatte um die übliche Zeit die Wohnung zum Einkaufen verlassen. Die erste Abweichung gegenüber einem normalen Tag war, dass M. spät gegen Mittag nach Hause kam, keinen Einkauf wie sonst mitbrachte. Sie setzte sich nahe zu mir und ich hörte, wie sie zu weinen begann. Als dann W. wie üblich am frühen Nachmittag nach Hause kam, war auch er anders als sonst. Nicht fröhlich und lebhaft, sondern schweigsam und lautlos ging er zu dem Schrank hinüber, in dem er seine Schulsachen verwahrte. Da an diesem Tag das große, schwere Tuch vor mir hing, konnte ich nur wenig sehen, sondern erschloss mir alles mehr oder weniger aus den Geräuschen, die ich durch ihre Wiederkehr kannte und den Abläufen zuordnen konnte.
„Diese Schande“, sagte M. in die Stille hinein, „diese Schande!“
Abermals begann sie zu weinen. W. reagierte nicht wie sonst, wenn M. weinte, sondern ging einfach aus dem Zimmer und verließ die Wohnung. Es war verstörend still an diesem Nachmittag. Nur hie und da wurde die Stille von einem unterdrückten Weinen M.s unterbrochen. Sie begann einige Male mit ihren alltäglichen Verrichtungen wie Zusammenkehren oder Abstauben, doch sie beendete diese Tätigkeiten nicht, sondern setzte sich immer wieder, um tief zu seufzen und zu weinen.
Abends begann M. jedoch wie jeden Tag mit dem Kochen und auch W. war in die Wohnung zurückgekehrt, setzte sich zu mir, machte Licht, um seine Hausübungen zu erledigen.
Es war dunkel, als F. nach Hause kam. Er hatte seit langem aufgehört, beim Hereinkommen M. zu begrüßen. Wie überhaupt die Art und Weise, wie M. und F. einander begegneten, sich verändert hatte. Während früher nach F.s Nachhausekommen beim Essen angeregte Gespräche darüber, was jeder erlebt hatte, geführt worden waren, schwiegen die beiden. Das einzige Gesprächsthema war immer mehr W. geworden, was er so machte, wie er sich entwickelte und dann später, wie es ihm in der Schule erginge. Da er offensichtlich ein guter Schüler war und es allmählich langweilig wurde, über gute Noten noch zu sprechen, erstarb auch dieses Thema, und so saßen die Drei bei mir und schwiegen. Auch an diesem Tag war es nicht anders, bis F. fragte, was denn der Lehrer heute in der Sprechstunde gesagt hätte. M. begann sofort zu schluchzen und ich konnte nicht verstehen, was sie zu ihm unter Tränen sagte.
Was dann folgte, veränderte mein Leben. Zuerst war ein heftiger Schlag zu spüren, ein Schrei W.s. Neben mir klirrte ein Teller auf den Boden, so dass ich mit einer grünlichen Flüssigkeit bespritzt wurde. Da es Freitag war, tippte ich auf Spinat. Ich weiß auch nicht, wessen Teller es war, aber in der Folge fiel der Vorhang mit allen Tellern und dem Besteck auf den Boden. Ich sah, wie F. in die Küche lief und mit dem Teppichklopfer zurückkam. Er begann auf W. einzuschlagen. W. kroch auf allen Vieren zu mir und schützte sein Gesicht mit den Händen. Unaufhörlich prasselten die Schläge auf W. herunter, wobei auch ich immer wieder getroffen wurde. W. weinte nicht wie sonst und schrie auch nicht, sondern presste die Lippen aufeinander.
„Es ist genug“, schrie M., „Hör auf!“
Aber F. schlug und schlug. Schließlich fasste ihn M. an der Hand, mit der er auf W. einschlug. F. riss seinen Arm los und schlug ein paarmal auf sie ein, sodass sie zurückwich. Wieder begann er auf W. einzuschlagen.
Da lehnte sich W. mit dem Rücken gegen meinen schräg vis-à-vis stehenden Bruder, stemmte sich mit seinen kräftigen Beinen gegen mich. Da F. in dieser Position W.s Oberkörper nicht mehr mit dem Teppichklopfer erreichen konnte, hieb er gegen mich und die Beine W.s. Ich spürte W.s jugendliche Kraft. Die Spannung seines Körpers.
Ich brach entzwei.
Mein oberer Teil blieb an der Stelle, an der er immer gewesen war, nur mein unterer Teil fiel zwischen das zerbrochene Geschirr.
Nach meinem Fall war es totenstill. F. hatte aufgehört, zu schlagen. M. hielt mit ihrem Weinen und Beschwichtigen inne. W. kletterte langsam unter dem Tisch hervor und ging, ohne durch ein Wort zurückgehalten zu werden, durch die Küche aus der Wohnung hinaus, wie ich aus dem Geräusch der zufallenden Wohnungstüre erschloss.
In den nächsten Stunden fiel kein Wort. M. räumte das zerbrochene Geschirr auf. F. verließ irgendwann die Wohnung.
Noch am selben Tag kam F. mit einer Dose Leim und einem Pinsel. Er bestrich die Bruchstellen mit dem Klebstoff und fixierte meine beiden Teile mit einer Metallschiene an der Innenseite, sodass man genau hinschauen musste, um Spuren dieses Vorfalls zu entdecken. M. verwendete von diesem Tag an noch größere Stoffvorhänge, um mit ihnen die Erinnerung zu verbergen. Das hatte zur Folge, dass ich nur mehr sehr wenig sah, was um mich herum vorging.
Beinahe unerwartet kehrte der Alltag wieder ein. Es war auch das letzte Mal, dass F. W. schlug. Gab es einen Zwist, wurde nach kurzem Gespräch darüber geschwiegen. Ich hörte nur die Geräusche, die das Besteck auf den Tellern machte. Dieser Zustand des Schweigens hielt manchmal Tage an.
Irgendwann verschwand W. aus dieser Wohnung und kam nur selten zu Besuch.
Nach Jahren des Alltags kam es zu einer Übersiedlung in eine neue Wohnung. In ihr wurde ich nicht wie früher gebraucht, sondern fand gnadenhalber einen Platz auf einem Balkon. Ich kam auf einem grünen Kunststoffrasen zu stehen, der in der prallen Mittagssonne, die ich zum ersten Mal in meinem Leben direkt auf meiner Oberfläche spüren konnte, zu stinken begann, was sich aber allmählich gab. War ich bisher in einem geschützten Raum gewesen, so lernte ich auf meinem neuen Platz die Länge der Tage und Nächte unmittelbarer kennen als zuvor, die Jahreszeiten mit ihrem Wechsel der Temperaturen. Zum Glück war ich auf dem Balkon einigermaßen vor dem Wind geschützt – den kannte ich aus der alten Wohnung nur als Durchzug, wenn M. vor dem Schlafengehen alle Fenster und alle Türen in der Wohnung geöffnet hatte. Nun lernte ich auch den Regen kennen, der manchmal vom Wind auf den Balkon getragen wurde. Und vor allem den Schnee.
Das neue Zuhause machte mich nachdenklich und schwermütig.
Nur selten kamen M. und F. auf den Balkon. Ich erlebte ihren Alltag verzerrt durch das spiegelnde Fenster der Balkontüre. Das änderte sich ein wenig, als W. auf Besuch kam und F. und M. ein Vogelhaus schenkte, das F. auf dem Balkon anbrachte. Bald zogen die ersten Vögel in das Häuschen ein, deren lautes Gezwitscher und Gezirpe mir allmählich gefiel, denn in meinem Abgeschobensein war ich froh, Leben sichtbar um mich zu haben. F. kam nun jeden Tag und streute in eine Schüssel, die er neben mich stellte, Vogelfutter, das noch mehr Vögel anlocken sollte. M. und F. saßen danach stundenlang hinter dem Glas der Balkontüre und beobachteten das Treiben, sprachen auch manchmal miteinander, wobei ich den Inhalt ihrer Gespräche aber nicht verstehen konnte. Menschliche Stimmen kannte ich bald nur noch aus dem großen Innenhof, auf den der Balkon zeigte. Es waren Kinder, von denen die meisten eine Sprache verwendeten, die mir nicht vertraut war. Meist schrien sie auch nur, sodass ich mit der Zeit aus dem Klang heraushören konnte, ob sie Spaß oder Streit miteinander hatten. Hatte ich doch in meinem Leben hinter dem Vorhang immer mehr begonnen, weniger den Bedeutungen von Worten und Gesten Gewicht zu schenken, als den Gefühlen, die darin zum Ausdruck kamen.
Der Kunststoffrasen rund um mich war mit der Zeit von den Schalen der Sonnenblumenkerne und auch den Ausscheidungen der Vögel übersät, sodass M. einmal in der Woche mit einem Staubsauger kam und unter dessen schrecklichem Heulen die Reste des Treibens beseitigte. Wie ich erkannte, war auch der Staubsauger ein anderer geworden, lauter und kräftiger
Mit dem Älterwerden, dem sich wiederholenden Tagesrhythmus und den immer gleichen Abläufen, verlor ich allmählich das Zeitgefühl, sodass ich nicht mehr sagen kann, ab wann M. nicht mehr zum Putzen auf den Balkon gekommen war. Auch F. ließ sich immer seltener blicken.
An einem Wintertag waren viele Menschen auf einmal – mehr als jemals zuvor – in der Wohnung gewesen, unter ihnen auch W., der kurz auf den Balkon kam und eine Zigarette rauchte. Er blickte mich lange und nachdenklich an. Vielleicht erinnerte er sich an diesen lange zurückliegenden, für mich so besonderen Tag. Einige Wochen sah ich nur F., wie er die Aufgaben von M. verrichtete, auch das Beseitigen der Reste des Vogelfütterns. Er stand danach noch kurz hinter der Balkontüre, um dem Treiben der angelockten Vögel zuzuschauen. Bald danach tauchte einige Male eine andere Frau in der Wohnung auf.
Danach folgten unzählige Sommer und Winter, in denen niemand mehr auf den Balkon kam, um die Vögel zu füttern, und auch niemand, um den Schnee, den ein stürmischer Winter auf den Kunstrasen geweht hatte, über die Balkonbrüstung in den Hof zu schaufeln.
Diese Jahre waren eine Zeit der Einsamkeit, verstärkt durch das fragende Gezwitscher der mich umschwirrenden Vögel, die nun vergeblich nach Futter suchten, eine Zeit der Sehnsucht nach Menschen, die durch die Stimmen der Kinder im für mich unerreichbaren Innenhof des Hauses geschürt wurde, und eine Zeit der Einkehr.
Die Balkontür öffnete sich und W. trat mit einem jungen Mann heraus.
„Man muss ihn nur putzen und ein wenig aufpolieren, B.“, sagte W. zu seinem Begleiter. Und so geschah es …
Ich wurde in die Wohnung getragen und dieses Mal verhüllte kein Vorhang meine Aussicht. Allerlei Gerät wurde neben mir aufgebaut, wonach B. manchmal von früh bis spät neben mir saß und an diesen Geräten arbeitete. Zwar war er dabei sehr schweigsam, doch da er sein Telefon nahe bei mir eingerichtet hatte, konnte ich oft hören, wie er mit W. und anderen Menschen sprach. W. kam nur selten auf Besuch, aber B. musste ihn, der in einer entfernten Stadt lebte, öfter aufgesucht haben, denn sie besprachen am Telefon diese Reisen.
Oft erhielt B. Besuche von Freunden, denen er neben mir sitzend seine Arbeit erklärte, sodass für viel Abwechslung in meinem nun wieder erfreulicheren Dasein gesorgt war. Es war beinahe wie in jenen vergangenen Tagen, als ich M. und F. in ihrem Leben begleitete und an diesem teilnahm.
Eines Tages schloss ich aus Gesprächen B.s, dass er eine Übersiedlung plante. Eine Übersiedlung in eine größere, eigene Wohnung ganz in der Nähe. Ich freute sehr mich auf dieses neue Kapitel in meinem Leben, denn ich stellte mir nach den intensiv miterlebten Vorbereitungen vor, dass alles heller, schöner sein würde, und konnte den Tag kaum erwarten, in diese neue Umgebung zu gelangen.
An einem Herbsttag – die Tage waren kürzer geworden – wurden schließlich die Geräte rund um mich abgebaut und in Kisten verstaut. Ich beobachtete, wie ein Möbelstück nach dem anderen aus der Wohnung getragen wurde. Nur noch ein alter Schrank war in dem Zimmer geblieben, in dem ich die letzten Jahre zufrieden und mit vollem Herzen gelebt hatte.
Von einem Tag auf den anderen wurde es still. Still wie damals, als F. von einem Tag auf den anderen nicht mehr gekommen war. Allmählich begann ich zu begreifen, dass mich B. zurückgelassen hatte. Ich habe ihn nur noch einmal gesehen, als er mit fremden Männern über den Abtransport „des Restes“ verhandelte. Und zu diesem Rest gehörte offensichtlich auch ich.
Der Schmerz darüber war so groß, dass ich die Ereignisse dieser Tage kaum bewusst wahrnahm. Ich weiß nur noch, dass ich mich selber tröstete, dass es doch irgendwann eine Wendung zum Besseren geben müsste. Noch einmal keimte Hoffnung auf, als ich aus der Wohnung getragen und auf einen Wagen verladen wurde, doch die kurze Fahrt endete in einer nach Vergangenheit riechenden Halle, in der Möbel aller Art gestapelt waren. Wie lange ich dort blieb, kann ich nicht sagen, denn ich hatte zum Selbstschutz aufgegeben, über die Welt und mich nachzudenken. Ich flüchtete auch nicht mehr in eine Scheinwelt, die ich mir aus meinen Erinnerungen hätte zimmern können. Ich verkroch mich in eine Nicht-Existenz, wie Menschen es wohl von unseresgleichen erwarteten.
Und es war mir wie gestern, als eines Tages ein namenloser Mann kam, und die Metallschiene losschraubte, mit der ich seit dem Vorfall zusammengehalten worden war. Metall sei immer etwas wert, murmelte er dabei. Da der Leim über die Jahre auf dem Balkon brüchig geworden war, zerfiel ich nach der Entfernung der Schiene abermals in die beiden Teile, nicht splitternd wie an jenem Wendepunkt in meinem Leben, sondern kraftlos wie die Blätter von den Bäumen im Innenhof neben mich auf den Balkon geschwebt waren. Zu alledem kam noch, dass meine schweigsamen Geschwister, die seit Anbeginn mein Schicksal geteilt hatten, von diesem Mann mit einem kreischenden Werkzeug zerteilt wurden. War das Schmerz, was ich dabei empfand?
Meine beiden Teile, mein nun verdoppeltes Ich, das ich auch nach dem Vorfall stets als Eins betrachtet und erlebt hatte, kamen mit den geteilten Geschwistern gemeinsam in einer Kiste zu liegen, die mit zahlreichen anderen ähnlich großen, schweigsamen und Ich-losen Dingen aufgefüllt wurde. Da wir ganz zuunterst lagen, umfasste uns eine drückende Dunkelheit und starrende Stille. War das das Ende? Begann so die Ewigkeit, von der ich einmal reden gehört hatte. Das ewige Leben? Der Tod? Meine noch einmal aufflackernden Gedanken kreisten nur um uns beide, die wir Zwei waren und doch Eins.
Mehr im Traum als im Wachen spürte ich, dass wir mitsamt der Kiste transportiert wurden. Es war ein Rütteln und Poltern, wie damals auf dem Pferdewagen, als ich in die Wohnung M.s und F.s gebracht worden war. Danach ein Schaukeln. Ein Ruck. Stille.
Irgendwann Geräusche in der Nähe. Metallenes Klirren. Ein Rütteln. Allmählich wurde es heller. Die auf uns Liegenden wurden den Geräuschen nach aus der Kiste geholt. Wir hörten ein Knistern und Fauchen. Dann wurden meine Geschwister, meine armen, zersägten Geschwister, von einer klobigen Hand aus der Kiste genommen. Sie ergaben sich ihrem Schicksal, widerspruchslos wie all die Jahre. Zuletzt waren nur mehr wir beide in der Kiste. Noch ein Augenblick Hoffnung, Hoffnung auf Veränderung, Hoffnung auf einen Beginn. Hoffnung ohne Worte.
Eine schwielige Hand griff nach uns, keine kräftige wie die des Drechslers. Es war die müde Hand eines alten Mannes, der mein schmäleres Ich in einen heißen Ring an der Tür des Ofens schob und damit das Tor zu einer Hölle öffnete, wie sie W. vor undenklichen Zeiten in seinem Katechismus beschrieben fand.
Ich spürte die Hitze.
Mit einer raschen Bewegung schob mich die Hand des Mannes zu meinem anderen Ich in die zur Glut gewordenen Geschwister. „Brennt gut!“ sagte der alte Mann zu dem flackernden Schatten, der hinter ihm kauerte. Es war mir, als rauschte und brauste im flammenden Licht des angefachten Feuers der Wind aus einer Zeit vor meinem Leben.