Die Geschichte vom verschwundenen Ei

In einem dichten Wald, der so dicht war, dass ein Mensch am Tag eine Laterne brauchte, um sich zurechtzufinden, lebte ein weiser Uhu. Dieser weise Uhu hatte sehr gute Augen und trug noch dazu eine Brille, sodass er sogar in der Nacht bei seinen Rundflügen an keinem Baum oder Busch hängen blieb. Er war viel unterwegs und daher war es auch kein Wunder, dass er bald eine Frau fand. Sie war eine Eule, ein wenig kleiner als er und brauchte dafür keine Brille, denn sie hatte die schärfsten Augen, die man sich vorstellen kann. Es ist auch nie geklärt worden, wer von den beiden den anderen zuerst gesehen hatte, und manchmal stritten der Uhu und die Eule darüber. Aber die beiden hatten einander seit der ersten Begegnung so lieb, dass sie sich danach immer wieder versöhnten. Dann saßen sie eng aneinander gekuschelt in ihrem Nest, das sie gemeinsam hoch oben auf der mächtigen Eiche gebaut hatten.

So dauerte es auch nicht lange, bis zwei prächtige Eier in ihrem Nest lagen.
Abwechselnd saßen die beiden auf den zwei Eiern und hielten sie warm, was Menschen brüten nennen. Während der Uhu Futter für sie beide holte, hielt die kleine Eule das Nest und die Eier warm. Dann wechselten sie einander ab und der Uhu setzte sich ins Nest, während die Eule auf Futtersuche ging. In der Nacht saßen beide gemeinsam im Nest und behüteten die beiden Eier.

Eines Tages hörten die beiden in den Eiern ein zartes Klopfen.

Da wussten sie, dass es nicht mehr lange dauern würde. In ihrer Aufregung und Vorfreude flogen sie gleichzeitig auf Futtersuche. Als sie zurückkamen, lag nur mehr ein Ei im Nest. Ist es aus dem Nest gerollt? Hat es jemand gestohlen? Die beiden suchten überall nach dem zweiten Ei, aber es blieb verschwunden. Sie holten sogar die Waldpolizei und machten eine Vermisstenanzeige. Alle ihre Freunde im Wald, angefangen vom großen alten Bären bis zum kleinsten Maulwurf, machten sich auf die Suche. Aber das zweite Ei blieb verschwunden.

Der Uhu und die kleine Eule waren sehr traurig, aber für Tränen blieb nicht viel Zeit. Das Ei in ihrem Nest hatte schon einen Sprung und es dauerte nicht mehr lang, bis eine kleine Eule aus dem Ei herauskullerte. Sie hatte große Augen und ein wunderschönes braunes Federkleid mit vielen Punkten. Auch die Flügelchen waren voller Punkte.

Die kleine Eule wuchs rasch heran, denn ihre Eltern wurden nicht müde, das beste Futter heranzuschaffen. So wurde aus dem kleinen Federbällchen eine wunderschöne Eulendame, auf die beide Eltern sehr stolz waren. Nur manchmal, wenn es Abend wurde, und ihre kleine Eule schon eingeschlafen war, erinnerten sich die beiden an das zweite verschwundene Ei und wurden sehr traurig. Obwohl sie sehr darauf achteten, dass ihre Tochter nichts von den Tränen mitbekam, geschah es doch eines Nachts, dass die kleine Eule diese Geschichte im Halbschlaf hörte. Da sie aber sehr müde war, schlief sie wieder ein. Sie würde ihre Eltern am nächsten Morgen danach fragen.

Just in dieser Nacht hatte die kleine Eulendame einen seltsamen Traum. Sie erinnerte sich an den Augenblick, als sie gerade aus dem Ei schlüpfen wollte. Da die Schale schon eine kleine Lücke hatte, konnte sie sehen, dass sich neben ihr ein Federnbüschel von den klebrigen Schalen befreite. Mit einem kräftigen Ruck schüttelte es das letzte Stück ab, wankte ein wenig am Nestrand und … verschwand. Die kleine Eulendame hörte zwar noch ein lautes Piepsen, doch dann war nur mehr Stille ringsum. Sie verhielt sich ganz ruhig und vergaß dabei sogar, selber weiter aus ihrem Ei zu schlüpfen.

Da hörte sie, wie jemand sagte: „Was haben wir denn da?“ Und da war nochmals ein Piepsen zu hören. „Ich habe zuhause einen Sohn, der ist krank! Der wird sich sicher freuen, wenn du ihm Gesellschaft leistest, kleiner Vogel.“

Nochmals ein leises Piepsen und dann Stille. Es dauerte nicht lange, bis ihre beiden Eltern zurückkamen und verzweifelt nach ihrem zweiten Ei suchten. Da kleine Eulen nach dem Schlüpfen noch nicht sprechen können, konnte sie ihren Eltern auch nicht erzählen, was sie gesehen hatte. Und später hatte sie es irgendwann vergessen.

Jetzt im Traum konnte sie sich an alles wieder erinnern.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, erzählte sie ihre Eltern von diesem Traum. Der weise Uhu schaute Frau Eule an, Frau Eule schaute ihren Mann an. Sie schauten einander lange an, denn sie konnten nicht glauben, was ihre Tochter erzählte. Auch wenn es für sie tröstlich klang, dass ihr verschwundenes Kind irgendwo in der weiten Welt ein neues Zuhause gefunden hatte, blieb es doch verschwunden.

Als sie an diesem Abend in ihrem Nest beisammen saßen und wieder einmal an ihr zweites Ei dachten, waren beide ein wenig weniger traurig. Und als ihre Tochter sagte: „Ich werde mich auf die Suche nach meiner Schwester begeben“, da hatten sie zuerst Sorge um ihr Kind, wie alle Eltern sich um ihre Kinder sorgen, die in die weite Welt hinausgehen.
„Ich werde meine Schwester finden und dann mit ihr zu Euch zurück kommen, damit sie uns erzählt, wie es ihr bei dem kranken Kind ergangen ist!“

Schon am nächsten Morgen machte sie sich auf den Weg. Die Eltern und viele Freunde begleiteten sie noch bis zum Rand des Waldes und saßen lange auf einer hohen Tanne, von der aus sie sehen konnten, wie ihre Tochter in den sonnigen Tag hinausflog und am Horizont verschwand.


Gefunden!


Bei der ersten kleinen Eule, die in unserer Familie auf den Namen Mimi getauft wurde und seit vielen Jahren mit einem blauen Nilpferd namens Willi verheiratet ist, handelt es sich um die Steiff-Eule Wittie, die es schon seit über dreißig Jahren in unveränderter Form gibt:


 


Diese Geschichte gelesen von Harald Brachner:
Werner-Stangl: Die Geschichte vom verschwundenen Ei.


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