Die noch nicht erblassten Erblasser

Proömium

Als vom Beitrittsdatum her betrachtet junges Mitglied des OESV kann ich mir nicht zuletzt durch die bei der Aufnahme überreichte Sammlung von Texten ein Bild davon machen, was einerseits Erbe und andererseits Auftrag im Zusammenhang mit dem 70-jährigen Bestand des OESV sein könnte. Andererseits ist mir bewusst, dass der OESV nur zwei Jahre vor mir aus der Taufe gehoben worden ist, demnach 97 Prozent der Lebenszeit mit mir teilt, ich auf Grund meines Beitritts knapp 2 Prozent aktiven Anteil an ihm habe. Aus diesen Eckdaten heraus drängen sich mir weniger auf den OESV als auf Literatur bezogene Fragen zu seinem runden Geburtstag auf. Hinzu kommt, dass ich mich in den letzten Jahren mit dem Thema Erben im Zusammenhang mit der eigenen Familie auseinanderzusetzen hatte, wobei ein materiales Familienerbe erbschleichenderweise in einem immaterialen Text implodierte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Also:

Dem Erben wohnt die Konnotation bei, etwas zu bekommen, was man vorher nicht hatte. Etwas, von dem man vielleicht geträumt, es aus gutem Grund auch erwartet, eher selten befürchtet hatte. Gleichzeitig gilt für Erbfälle, dass man häufig nicht Alleinerbe ist, sondern sein Erbe teilen muss. Das trifft im Fall des Erbes eines Literaten oder einer literarischen Vereinigung wohl zu.

Im Erbfall drängen sich kurzfristig Fragen auf, an die kein Beteiligter gedacht hat. Die einfachste Frage ist noch die nach dem Erbgegenstand. Doch was bedeutet dieser im Zusammenhang mit Literatur? Sind es Zeitschriften, Bücher, schlicht Papier mit Buchstaben bedruckt? Oder ist ein solches Erbe neben Festgeschriebenem vor allem das Immaterielle, also Ideen, Gedanken? Oder gar Formalia wie literarische Formen, Versmaße, Zeilenlängen, gar Normseiten?

Die Problematik, die sich bei einem literarischen Erbe stellt, ist wohl in erster Linie der Gegensatz zwischen Substanz und Idee, zwischen Materialität und Immaterialität. Während es bei materialen Objekten meist möglich ist, dieses aufzuteilen, ist das bei Literatur schwieriger. Man stelle sich vor, dass ein Erbe die ersten einhundert Seiten eines Werkes erhält, während sich der zweite nach Erhalt der restlichen einhundert fragen muss: Was geschah davor? Während der erste wissen möchte, ob sich Hamlet und Ophelia doch bekommen haben, oder ob Ophelia ins Bordell gegangen ist, wie Shakespeare ihr sinngemäß geraten hatte, wundert sich der zweite, warum die Freunde mit Waffen aneinandergeraten.

Als Literatur Bezeichnetem wohnt eine gewisse Unbarmherzigkeit bei, denn das zwischen Buchdeckeln und in Bibliotheken als Literaturfriedhöfen Festgehaltene hat hartnäckig Bestand. Dort Verwahrtes wird zwar bei der Vergänglichkeit alles Seienden irgendwann entweder einem Konservator oder einem Bücherwurm vorgeworfen, wobei letzterer ein Käfer ist, wenn auch in einem wurmähnlichen Larvenstadium.

Beim Erben ist formal betrachtet oft die erste Frage: Ist ein Testament des Erblassers vorhanden, ein schriftliches oder mündliches? Ist es beglaubigt? Ist es beiseite geschafft worden?

Ist im Fall eines literarischen Erbes nicht das von den verblichenen Erblassern Hinterlassene Testament und Erbe zugleich? Ist Literatur also Testament und Testat?

Manche legen vorausblickend fest, was mit ihrem Erbe zu geschehen habe, wobei einige aus Rücksicht auf die Erben oder boshafterweise zu deren Bestrafung eine Vernichtung ihres Nachlasses fordern. Wollen sie dadurch verhindern, dass sie eines Tages in einem Schuber mit zwanzig Bänden enden, horribile dictu als Deko in einem Ikea-Regal „Bengt“.

Bekanntlich verläuft bei Erbschaften alles so lange harmonisch, bis der Erbfall eintritt. Dann zerbröseln Beziehungen wie schlecht gelagerter Papyrus.

Aus der Perspektive der Erben betrachtet, gibt es die Möglichkeit, das Erbe zu verweigern. Etwa um sich vor der Erbschaftssteuer zu drücken. Was geschieht in einem solchen Fall mit dem Erbe? Zahlreiche Erben können mit ihrem Erbe wenig anfangen, wovon Altwarenhändler und Nachlassverwerter ein Lied singen können. Was geschieht bei fehlenden Erben? Fällt das literarische Erde dem Staat anheim? Oder fällt es ins Nichts? In die Ewigkeit?

Ist aber einmal ein Erbe gefunden, kann dieser nach dem Erhalt der Einantwortungserklärung im Namen des Erblassers bekanntlich so handeln, als ob dieser noch am Leben wäre. Kann er dann auch ein literarisches Erbe beliebig umschreiben? Also wie bei materialem Erbe damit machen was er will?

Wie schaut es mit der Erbschaftssteuer aus? Kann man die gegen andere Steuern gegenrechnen? Bis wann muss die Steuer beim Finanzamt der Literaturgeschichte entrichtet werden? Gibt es Fälligkeiten, Termine, Strafrahmen?

In der Regel treten Erbfälle erst dann ein, wenn jemand verblichen ist. Das trifft auf das literarische Erbe des OESV gottlob nur bedingt zu, denn viele der Autorinnen und Autoren erfreuen sich bester Gesundheit, sind also sowohl Erben als auch Erblasser und das paradoxerweise gleichzeitig. Bei Erbschaften zu Lebzeiten findet man außerhalb der Literatur einige Varianten, die vom Ausgedinge über das Nutzungsrecht bis zum Wohnrecht reichen, also mancherlei Konstruktionen, die für die noch nicht erblassten Erblasser durchaus riskant sein können, vor allem dann, wenn sich die Erben zu früh als solche fühlen.

Pietätvollerweise sollte man in der Literatur wohl nur dann von Erbe sprechen, wenn der Erblasser realiter erblasst ist, denn es gibt Erblasser, die sich Zeit ihres Lebens an ihren bevorzugten literarischen Themen abarbeiten und bis zu ihrem physischen Ende nie zu einem literarischen kommen, sodass Erbe und Erben in Bezug auf deren literarischen Hervorbringungen am ehesten dann Sinn macht, wenn man den Veröffentlicher und das Veröffentlichte als tot im Sinne von unveränderlich auffasst, wobei der erste – ohne Einbalsamierung und Mumifizierung versteht sich – den Weg allen Fleisches geht, während das Vererbte ein Ablaufdatum aufweist, das nicht zuletzt von der Lagerung und Behandlung abhängt, die man ihm zuteil werden lässt. Hier pendeln manche Erben zwischen Nekrophilie und Exhumierung, Erbschleicherei und Leichenfledderei vulgo Plagiierung.

Seufzend aber nicht unbedingt resignierend bin ich als noch einigermaßen lebender Autor zur Einsicht kommen, dass ich als irgendwie Involvierter das Erbe von 70 Jahren OESV kaum angemessen fassen oder gar würdigen kann. Leichter ist es vermutlich mit dem titularisch damit verbundenen Auftrag, ist der doch auf 6500 Zeichen mit Leerzeichen klar beschränkt, die jetzt erreicht sind.


Beitrag zur Jubiläumsausgabe „70 Jahre ÖSV“ des Themenhefts 2015 „Erbe und Auftrag“ – Literarisches Österreich, Zeitschrift des Österreichischen Schriftsteller/innenverbandes, S. 108-109.


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