„Sie entsteht allein in unserem Kopf!“ klugte der Ältere, während er mit sorgfältigen Bewegungen den braunen, angetrockneten Kaffeeschaum von der Innenseite seiner Kaffeetasse herunterkratzte. „Allein dort!“
Der jüngere der beiden Männer bequemte sich auf seinem Sessel und legte den Kopf auf die Faust seiner rechten Hand, die sich ihrerseits mit dem Ellbogen in der Handfläche seines linken Armes abstützte, die auf seiner nicht unansehnlichen Vorwölbung des Bauches ruhte. Offensichtlich wollte er mit dieser Haltung seinen Kopf, in dem „sie“ sich nach der Aussage seines Gegenüber befand, stützen. Auch der Ältere lehnte sich in seinem Sessel zurück, faltete dabei die Hände vor seinem Kinn, wobei sich nur die korrespondierenden Fingerspitzen der beiden Hände berührten und die Finger mit der geraden Fortsetzung der Arme auf einer Linie lagen, so dass die auf der Sessellehne aufgestützten Hände ein großes „A“ bildeten. Er wird diese Position während des gesamten Gespräches beibehalten bis zu dem Augenblick, in dem er auf die Uhr sehen wird, um das Gespräch zu beenden.
Beide schwiegen für einen Augenblick.

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„Aber …“, plötzlichte der Jüngere mitten in die entstandene Nische der gemeinsamen Stille im allgemeinen Kaffeehausgemurmel.
„Aber dann hat ja jeder eine andere in seinem Kopf!“
Er schüttelte seinen Kopf und ungläubigte: „Dann wäre sie ja für den Einen Dies und für den Anderen Das. Es muss doch etwas Verbindliches geben, das dem einfachen Menschen sagt: Das ist eine und das ist keine!“
Der Ältere öffnete die gefalteten Hände fast wie beim Segen eines Priesters und oberlehrerhaftete: „Das Verbindliche ist das Problem, mit dem wir es in der Wissenschaft zu tun haben. Aber man hat sich in der Tradition auf einen Kanon geeinigt, der eine gewisse Zeit bewahrend weitergegeben und nur sehr langsam verändert wird.“
„Und wer tradiert und verändert?“ ratloste der Jüngere, während er den noch immer durch seine Hand gestützten Kopf ein wenig mehr neigte.
„Man muss sich an die Regeln halten! Die Regeln zuallererst!“ vehementete sein Gegenüber. „Die Regeln!“
Der Ältere schloss dabei die geöffnete Stellung seiner Arme und nahm wieder die des großen „A“ ein. Dann nachdenklichte er, beinahe zögernd: „Wir Wissenschaftler. Früher war sie ein Zeichen für Gelehrsamkeit schlechthin und übernahm in den Debatten der gehobenen Schichten die Rolle der Religion.“
„Und die Abertausenden, die danach täglich greifen?“ skeptischte der Jüngere. „Die kümmern sich doch nicht um die Regeln!“
„Sie ist kein Massenphänomen!“ elitierte der Ältere, „eher das Gegenteil! Was die Masse schätzt, gehört über kurz oder lang nicht dazu! Hier herrscht Prostitution an den Zeitgeist!“
Er machte eine Pause, öffnete einige Male das „A“ seiner Arme ein wenig und schloss es wieder, als ob er damit die Endgültigkeit seiner Worte unterstreichen könnte. Dabei glitt sein Blick hinüber zu einer Frau mit langen blonden Haaren, die am Nebentisch in einer Tageszeitung geräuschvoll blätterte.
Wieder schwiegen die beiden eine Weile. Der Jüngere nippte an dem Glas, das neben seiner Kaffeetasse stand und inzwischen lauwarmes Wasser enthielt. Er verzog dabei den Mund.
„Früher bekam man hier von Zeit zu Zeit frisches Wasser“, verächtlichte er den Verfall der Sitten.
„Früher …“, mildete der Ältere seufzend, was gut zu seinem bisherigen Gesprächshabitus passte und sein Gegenüber daher nicht überraschte, „früher hatte man noch Stil!“
Wieder öffnete er die gefalteten Hände, dieses Mal eher entschuldigend denn segnend.

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Der Jüngere nachdenklichte, den Gesprächsfaden wieder aufnehmend: „Ich war immer der Ansicht, dass ihr Kanon im Wesentlichen im Gebrauch festgelegt wird.“
„Eine Abstimmung mit den Füßen? Das ist nicht Ihr Ernst!“ heftigte der Ältere, dieses Mal, ohne die Position seiner Arme zu verändern.
„Sie war einst ein Synonym für Wissenschaften schlechthin! Aber diese Deutschen mit ihren Rübe-ab-Bedeutungseinengungen …“, verächtlichte der Ältere, während seine rechte Hand sich aus dem aufgestützten „A“ löste und wie ein Henkersschwert in die gefährliche Nähe seines Wasserglases zuckte, das leergetrunken auf dem blechernen Tablett auf einer dünnen, durchweichten Serviette stand. „Dadurch lässt sich ihre Bedeutung heute ja so schwer eingrenzen. Die einstige hochstehende fachliche Diskussion ergeht sich in unseren Zeiten mehrheitlich in nutzlosen, wortklüngelnden Debatten über die verschiedensten Definitionen des Wortes selbst“, lautete er so vehement, dass die Frau vom Nebentisch irritiert die Zeitung sinken ließ und zu ihnen herübersah.
„Wird nicht manchmal aus dem modischen Ausnahmefall irgendwann doch der Regelfall?“ verbindlichte der Jüngere, um seine These weiterzuführen. „Ich denke da an …“
„In manchen nationalen Traditionssträngen ist sie vielleicht im Kern Überlieferung – aber es gibt Grenzen, lieber Freund! Grenzen!“ jovialte der Ältere, dieses Mal ohne eine Veränderung des „A“.
„Aber die Grenzen sind doch wie sie selber auch nur in den Köpfen der Menschen, oder?“ ironischte der Jüngere mit einem beinahe triumphierenden Nebenton, der dem Gegenüber nicht verborgen blieb.
„Das ist doch Sophismus, lieber Freund, purer Sophismus! Wir reden hier von ihrer Definition im „engen Sinn“, und die ist gegenstandsgemäß arbiträr und zirkulär angelegt“, heftigte er abermals. „Über das andere, was der Mann von der Straße darunter versteht, mag man in Talkshows streiten“, sänftigte er.
„Aber ist das nicht der Beweis dafür, dass sie es bisher nicht einmal zuwege brachte, ihren Forschungsgegenstand klar zu definieren?“
„Au contraire! Sie ist doch selbst die Anbieterin des Streits um sie geworden!“
„Doch längst ist es nicht mehr die Wissenschaft allein, in der ihr Diskurs stattfindet, sondern jede Interessensgruppe bringt heute ihre eigene Perspektive ein.“
„Und was bringen diese Debattierklubs der modernen Gesellschaft? Was bringt diese öffentliche Inszenierung? Diese Verbreiterung des Banalen?“ hochnäsigte er.
„Sie muss aber doch einen Streit über ihre Rolle in der Gesellschaft zulassen, oder sind Sie da anderer Meinung?“ demokratischte der Jüngere.
„Aber es ist doch Expertise notwendig, junger Mann!“ gönnerhaftete der Ältere. „Expertise, die sie doch zweifelsohne besitzen!“
„Ich bin nur gegen die Exklusivierung in den universitären Seminaren …“ deutlichte der Jüngere.
„Davon halte ich auch nichts, denn eine gewisse Durchlässigkeit muss gegeben sein! Aber Wissenschaft ist heute ohnehin schon so öffentlich geworden, dass jede Putzfrau ihre Meinung dazu hat, und diese – horribile dictu – auch in einem Privatsender kundtun kann!“
„Sie halten die pluralistische Diskussion für gefährlich?“
„In gewissem Sinne ist alles durch einen Allerweltsdiskurs kaputtbar! Daher halte ich die staatliche Funktion des Diskursbeobachters für ganz wesentlich.“
„Sie reden der Zensur das Wort?“
„Wer redet von Zensur? Aber manches kann man einfach nicht der Demokratie überantworten. Wissenschaft schon gar nicht“, pathetischte er, während sein Blick abermals zu der blonden Frau am Nebentisch schweifte, die sich unberührt vom Gespräch der beiden hinter der Tageszeitung verschanzte.
„Ihnen schwebt wohl der Diskurs in geschlossenen Zirkeln wie im 18. Jahrhundert vor, als Wettkämpfe veranstaltet wurden!“
„Innerhalb der scientific community macht ein Wettstreit der besten Ideen Sinn, solange es nicht im Inzest mündet.“
„Institutionalisierung ist auch eine Möglichkeit, etwas umzubringen!“ zynischte der Jüngere.
„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen! Oder hängen Sie Poststrukturalisten wie Barthes an, denen Alles Alles ist? Wissenschaftler müssen heute dringender denn je, um nicht zu sagen notgedrungen, andere Wissenschaftler davon abhalten, im eigenen Forschungsfeld als Experten aufzutreten. Wenn man sein Territorium nicht absichert …“
Der Ältere blickte dabei auf die Uhr an seinem linken Handgelenk, ohne das „A“ zu öffnen.
„Ich habe einen wichtigen Termin, Herr Kollege! Aber es findet sich sicherlich eine Gelegenheit, unser interessantes Gespräch fortzuführen.“
Die Augen des Älteren hielten nach einem Kellner Ausschau.
„Zahlen!“ lautete der Jüngere. „Zahlen!“

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Erscheint in „Literarische Österreich 2020. Zeitschrift des Österreichischen Schriftsteller/innenverbandes 2020/01“.


[Verzeichnis der Prosa]

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