Frau Wetter lebte ganz oben, nicht metaphorisch sondern wortwörtlich: über den Dächern, weit über den üblichen Gewohnheiten, die man gemeinhin als Wetterlage bezeichnet. In ihrer Nachbarschaft rieben sich die Wolken aneinander, und die Regentropfen besprachen sich, bevor sie fielen. Nicht selten waren Hagelkörner bei Verschwörungen beobachtet worden. An manchen Tagen, wenn die Luft besonders klar war, konnte man durch die Fenster den Horizont atmen hören. Das Interieur war ständig im Fluss, die Möbel standen nie dort, wo sie sich abends niedergelassen hatten. Besonders der Esstisch war ein wanderndes Tier, der Kleiderschrank ein wetterfühliger Eigenbrötler, und der Spiegel im Flur zeigte nicht das Gesicht des Davorstehenden, sondern die Wetterlage des vorigen Tages.
Frau Wetter war Alleinerzieherin, denn ihr Gatte Gewitter hatte sie nach kurzem Grollen verlassen. Er war einst gekommen wie eine Front aus Fernost, unberechenbar, elektrisierend, mit Händen, die nach Ozon rochen. Und er war gegangen, wie er gekommen war: mit einem letzten Schlag auf den Esstisch, einem flüchtigen Blitz an der Schlafzimmertür stehend und ein Echo hinterlassend, das sich nie ganz legte. Seither lebte sie mit ihren vier Kindern Nordwind, Südwind, Ostwind und Westwind allein, die ihr Gatte in einer einzigen stürmischen Nacht gezeugt hatte. Doch das war lange her, auch wenn niemand genau sagen konnte, wann es gewesen war. Manchmal hielt sie es selber für eine Legende.
Nordwind sprach selten, aber wenn, dann schnitten seine Worte wie kalter Stahl. Er war pünktlich, präzise, und fror Dinge ein, um sie besser kontrollieren zu können. Morgens trug er Pelz über seinem Schlafanzug und trank Tee mit einem Löffel Schnee. Südwind hingegen lebte in langsamen Schleifen, duftete nach Früchten, die man nicht kannte, und weinte beim Frühstück, wenn die Sonne schief ins Marmeladenglas fiel. Er sagte oft: „Heute ist ein Tag zum Vergessen.“ Ostwind war am schwersten zu fassen, denn er kam immer quer, von hinten oder zu früh. Seine Gedanken verliefen sich in Karten, seine Sätze waren Spiralen, und seine Taschen voller Geheimnisse, die niemand überprüfte. Westwind war ein Nomade mit Fernweh in den Augen, schlief wie die Möbel selten an derselben Stelle, sammelte Wolkenschatten und brachte Gerüchte, Insekten und Flugblätter aus fernen Zonen mit. Nach Gewitters Abschied erstarrten die Beziehungen der Kinder zueinander. Während sich Nordwind und Südwind symbiotisch verstanden, blieben Westwind und Ostwind einander immer fremd. Nordwind und Südwind suchten einander, in stürmischen Zeiten kuschelten sie sich nicht selten aneinander. Westwind und Südwind blieben einander fremd und prallten voneinander ab wie falsch gepolte Magnete.
Frau Wetter beobachtete ihre Kinder, wie man ein Barometer beobachtet: liebevoll, aber mit aus Erfahrung gespeister Skepsis. Sie versuchte zu koordinieren, zu moderieren, zu glätten, und war doch immer Zentrum eines Durcheinanders. Ihre Stimme konnte zwar die Druckverhältnisse im Raum verändern, doch beim Kochen war sie immer zerrissen, denn gab es Cirrusbrei mit Regenrand kamen zwar alle an den Tisch, doch nie aßen alle, genauso wenig, wie wenn sie Cumulus mit Gewittertürmen servierte. Der Alltag funktionierte nach Regeln, die nirgends notiert waren. Man wusste nur: Wenn der Wetterfrosch in der Abwasch sich unter das Wettex verzieht, wird es ernst. Wenn die Teekanne singt, sollte man in jedem Fall zuhören. So viel zur Produktplatzierung.
Eines Morgens lag ein Zettel auf dem Tisch. Niemand hatte ihn hingelegt. Er trug nur drei Worte: „Gewitter kommt zurück.“ Die Schrift war krakelig. Nordwind sagte, der Zettel sei unter der Tür hindurch gekrochen. Südwind behauptete, er habe geduftet wie nasser Asphalt. Ostwind sah ihn an und sagte: „Ich erinnere mich an diesen Satz, bevor ich lesen konnte.“ Westwind grinste nur und sagte: „Er hat’s also gemerkt.“ Frau Wetter faltete den Zettel zu einem winzigen Papierblitz und stellte ihn ins Fenster. Dann sagte sie nichts. Was sollte man auch sagen, wenn sich etwas lang Erwartetes ankündigt.
Am nächsten Tag und auch in den darauf folgenden Tagen veränderte sich nichts und alles. Die Stühle standen nur manchmal ein wenig schiefer als sonst. Die Fenster beschlugen von innen, obwohl niemand weinte. Der Herd spuckte kleine Lichtpunkte aus, wie Morsezeichen, die niemand deuten konnte. Die Kinder sprachen seltener, aber lauter. Nordwind feilte an seinen Eiszapfen. Südwind legte sich auf den Boden und schmolz vor sich hin. Ostwind verschwand in einem Schrank, ohne sich zu falten. Westwind stellte immer wieder einen zusätzlichen Teller auf den Tisch und sagte: „Nur zur Sicherheit.“
Frau Wetter kochte Tee mit selbst geerntetem und getrocknetem Lavendel und mit Unentschlossenheit, wobei sie ihren besten Morgenmantel aus Nebel trug, den sie damals getragen hatte. Dann öffnete sie das Fenster, das sie sonst nie öffnete. Nur einen Spalt, gerade so weit, dass der Nebelrand ihres Mantels hinauswehen konnte. Einen Moment lang stand sie da, ganz still, wie im Luftzug zwischen zwei Jahreszeiten. Dann schloss sie es wieder. Nichts hatte sich verändert, und doch war etwas geschehen.
Draußen spannte sich wie jeden Tag der Himmel über den Horizont, der aussah, als würde er gleich alles vergessen wollen. Doch: Kein Klopfen. Kein Knistern. Kein Lichtbogen. Nur ein leises Zittern in der Luft, als würde etwas Abwesendes atmen. Vielleicht kam Gewitter ja auch nie mehr zurück, vielleicht war er auch längst da wie eine Erinnerung, die eine neue Form in einer anderen Dimension angenommen hatte, ein atmosphärischer Nachhall, der sich in der Wohnung festgesetzt hatte wie Staub aus alten Gesprächen. Vielleicht war alles aber auch egal. Denn in dieser Wohnung gab es zu viele Dinge, die keinen Anfang und kein Ende kannten. Ein schwankender Zirkel mit Druckverhältnissen aus einem Wetterbericht ohne Archiv. Jeder Tag schien ein neuer Versuch, in all dem Durcheinander irgendwie aufrecht zu stehen. An jedem Abend saßen sie gemeinsam und in stets gleiche Reihung auf dem wandernden Sofa, tranken Tee, der je nach Stimmung süß oder bitter schmeckte, und sahen den Wänden beim Atmen zu. Niemand sprach mehr vom Zettel. Niemand sprach von der Wetterlage. Es war manchmal auch windstill. Für einen kostbaren Moment.
Einmal kicherte Westwind leise, als hätte er etwas gehört, das nur er verstehen konnte. Ostwind warf ihm darauf hin ein spöttisches Raunen zu. Frau Wetter blickte zum Fenster. Eine Wolke trieb vorbei, langsam, weiß, mit einem Riss in der Mitte, der aussah wie ein Ohr. Oder ein Auge. Oder ein Zeichen. Oder gar nichts. Und irgendwo in der Wohnung tropfte es. Stetig wie Erinnerungen, die man nicht loswerden kann.
Historische Anmerkung: In der griechischen Mythologie sind diese vier Winde Aiolos zugeordnet, der von Zeus als Herrscher über sie eingesetzt worden war. Diese besaßen auch klingende Namen: Boreas (Nordwind), Euros (Ostwind), Notos (Südwind) und Zephyros (Westwind).