Auch wenn für Menschen lebenslang theoretisch klar durch den Anfang Geburt – manche setzen die Zeugung an den Beginn – und das Ende Tod definiert scheint, so schwierig ist lebenslang im Einzelfall zu bemessen. Schließlich heißt es in der Bibel: „Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.“
Und der sagt es üblicherweise nicht.
Wird ein Straftäter zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, so weiß keiner genau, wie lange lebenslang dauern wird, denn möglicherweise kommt er wegen guter Führung nach fünfzehn Jahren frei, kann bei einem Gefangenentransport flüchten oder sich durch ein in Streifen geschnittenes und zusammengeknotetes Leintuch dem verfügten lebenslang entziehen, sei es an der Gefängnismauer oder am Fensterkreuz. Aber auch im zweiten Fall kennt er nicht die Stunde, denn vielleicht wird er von einem aufmerksamen Wächter entdeckt und dann geht es mit dem lebenslang weiter.
Pech gehabt. Oder Glück, je nach Perspektive.
Im Grunde ist lebenslang zwar eine unsichere Angelegenheit, doch zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass lebenslang teilweise in den Griff zu bekommen ist, denn es besteht stets aus zwei Teilen: einem fest definierten und einem unbestimmten.
Dafür muss man nur die Perspektive auf den Augenblick, das Jetzt legen, denn dann ist ein Teil des lebenslang durch den Zeitraum von der Geburt bis zu diesem Zeitpunkt klar festgelegt. Da heutzutage die meisten Menschen eine Geburtsurkunde besitzen und so den Tag ihres Lebensbeginns genau kennen, können sie bei einigem mathematischen Geschick und der Kenntnis der Schaltjahre die Tage dieses Abschnitts genau berechnen. Einige kennen sogar die Stunde ihres ersten Schreis und können in kleineren Zeiteinheiten wie Stunden, Minuten, Sekunden ausdrücken, wie viel von ihrem lebenslang bisher verflossen ist.
Bis zu diesem Zeitpunkt ist lebenslang eindeutig und um diesen Abschnitt brauchen sich Menschen keine Gedanken mehr zu machen.
Menschen widmen sich vor allem dem zweiten Teil des lebenslang. Viel hängt dabei vom jeweiligen Zeitpunkt dieser Auseinandersetzung ab, denn eine Prognose für einen Säugling stellt sich anders dar als für einen Hundertjährigen, da Neugeborene eher selten aus dem Fenster steigen und versuchen, sich mit Drogengeld ein neues Leben aufzubauen.
Bei den Prognosen stützen sich die meisten auf die Erlebnisse des ersten Teils des lebenslang, wobei diese hoffen, dass er besser wird als der erste oder wenigstens nicht schlechter. Ängstliche befürchten, dass es nur mehr bergab gehen kann, was in Bezug auf die Lebenserwartung realistisch ist, denn schließlich tickt der Lebenswecker unaufhaltsam bis zum rien ne va plus.
Am kritischsten scheint diese Extrapolation in jener Phase des Lebens, die als midlife-crisis bezeichnet wird. In dieser Zeit ist der Mensch in seinem Leben im Wortsinne halbwegs unterwegs, doch er beginnt bewusst akzeptierend oder unbewusst verdrängend zu erkennen, dass die Proportion des ersten Teils zum zweiten allmählich in Schieflage gerät. Vor allem befürchten einige, dass der folgende Abschnitt kürzer sein könnte als der erste, was mit der Dauer des Nachdenkens erfahrungsgemäß immer realistischer wird.
Es gibt traditionsreiche Berufsstände, die sich vorwiegend mit dem zweiten Teil des lebenslang beschäftigen. Waren es in der Antike von Gasen oder Rauch benebelte Jungfrauen, die in die Zukunft blickten, so waren es später Wahrsagerinnen mit einer Glaskugel oder der Fähigkeit, in den Linien der Hand das künftige Schicksal und seine Dauer zu enthüllen. Heute werden kürzere Prognosen in Tageszeitungen, Wochen- oder Monatsmagazinen bevorzugt, die genauso treffsicher sind wie die um die Jahreswende erstellten Horoskope, die neben Reichtum und Erfolg vor allem Liebe und Glück in Aussicht stellen. Oder auch nicht. In diesen Kurzprognosen findet sich so gut wie nie eine genaue Angabe über die Dauer der zweiten Hälfte des lebenslang. Man stelle sich eine konkrete Formulierung vor: „In der kommenden Woche werden Sie überraschend den Besuch eines Mannes mit einer schwarzen Kapuze erhalten, der eine Sense geschultert hat. Sie sollten darauf vorbereitet sein!“
Die Ungewissheit über den zweiten Teil des lebenslang trieb aber in der Menschheitsgeschichte weit seltsamere Blüten, denn Menschen begannen sich früh an die vage Hoffnung zu klammern, dass lebenslang doch von anderer Dauer wäre als von der irdischen Lebens. Dies mündete schließlich in die Phantasie, dass es einen dritten Lebensabschnitt geben müsste, der das lebenslang ad absurdum führt und ewig währt. Tiefenpsychologisch betrachtet wurde dieser Teil des lebenslang deshalb erfunden, um dem zweiten Abschnitt die Bedrohung eines absoluten exitus zu nehmen. So nach dem Motto: Dieses Leben kann doch nicht alles gewesen sein. Oder: Wer glaubt, lebt ewig.
Verfasst für PODIUM Heft Herbst/Winter 2018