Facetten 2023 Literarisches Jahrbuch der Stadt LinzSchon in meiner Kindheit liebte ich es, wenn ich ein Buch zum ersten Mal in Händen hielt, daran zu riechen. Schon bei der optischen Prüfung des Äußeren stellte ich mir vor, welche Geruchsgeheimnisse dieses Buch wohl enthalten könnte. Dabei war ich von Anfang an wählerisch, denn mir kamen nur Hardcover an die Nase, während ich Taschenbücher kategorisch ablehnte, auch wenn ich etwa für die Schule zahlreiche Reclam-Hefte benutzen musste, die in ihrer gelben Einförmigkeit abstoßend wirkten. Hier verband sich die negative taktile Empfindung mit der olfaktorischen.

Besonders hatten es mir Bücher angetan, die einen Schutzumschlag besaßen. Wenn man das Buch nämlich aus diesem herausschälte, war die olfaktorische Anmutung besonders intensiv. Manchmal unterschied sich der Geruch des Buches von dem des Einbandes deutlich, wobei die bunten Umschläge selbst wenig geruchsergiebig waren, da sie zuvor zu lange der Umgebungsluft ausgesetzt gewesen bzw. von zu vielen Händen berührt worden waren.

Mit der Zeit entwickelte ich gewisse Routinen, mit denen ich mich Büchern annähern konnte. Meist taste ich mich dabei mit meiner Nase vorsichtig am Titel beginnend über den Buchrücken entlang zur oberen Verleimung, dann an den geschlossenen Buchseiten entlang, wobei mir die seitliche Wölbung besonders intensive Geruchserlebnisse beschert. Bei umfangreicheren Büchern kann es schon vorkommen, dass bei einer sehr breiten Wölbung zwei oder sogar drei Riechgänge notwendig sind.

Bevor ich dann vorsichtig das Buch aufblätternd die Titelei erforsche, verbindet sich der Geruch des Buches mit dem literarischen Titel, die ich simultan aufsauge. Nach der Untersuchung der Außengerüche der Bücher beginnt das eigentliche Abenteuer der Bucherkundung. Mit Bedacht öffne ich dann das Buch an einer zufälligen Stelle und nähere ich mich langsam mit geschlossenen Augen den Seiten, bis ich zuletzt mit meiner Nase in diese eintauche. Das wiederhole ich drei- bis viermal zufällig öffnend, je nach Umfang des Buches. Auch während der anschließenden Lektüre eines Buches benutze ich immer wieder meine Nase, um meine Eindrücke des Gelesenen zu verstärken. Nicht selten frage ich mich dabei, welche Gerüche wohl dem Autor oder der Autorin beim Schreiben seines Textes gerade präsent gewesen waren, welche Gerüche er oder sie in der literarischen Hervorbringung bei den Leserinnen und Lesern auslösen möchte.

Vom Geruch der BücherSchon in meiner Jugend entwickelte ich Vorlieben für bestimmte Genres, die mit meinen Geruchserfahrungen korrespondierten. Manche Bücher führten mich in fremde Länder mit ihren fremden Gerüchen, wobei ich besonders den Duft von Seereisen genoss, denn in ihnen verband sich der Geruch des Meeres mit dem Geruch der unendlichen Weite der Welt.

In meiner Kindheit waren es die Erzählungen von Karl May, in denen ich dem Geruch der Lagerfeuer und dem Geruch der Friedenspfeife nachspürte, dem Geruch der Pferde und dem Pulverdampf der Gewehre. Nicht selten verfolgten mich diese Gerüche in meine Träume. Später waren es etwa Marcel Prousts Reminiszenzen an die Kindheit von Swann, in denen die Düfte heißen Tees sich mit dem Geruch von Madeleines verband, die mich zu geruchsintensiven Expeditionen in eine verlorene Zeit führten.

Seltsamerweise waren Bücher, die explizit von der Geruchsthematik handeln, für mich wenig ergiebig. So war der Bestseller „Das Parfum“ eher das Gegenteil eines olfaktorischen Genusses, was vermutlich an dem Protagonisten lag, in dessen hoher Sensibilität die Gerüche zu reflektiert daherkamen oder auch zu sehr literarisch verbrämt waren, als dass mich dieses Buch sensorisch hätte erreichen können.
Enttäuschend waren für mich auch Kochbücher, was wohl daran lag, da sich in ihnen so unterschiedliche Gerüche vereinigten, die in ihrer Gesamtheit meinen Appetit nur zerstören konnten. Man stelle sich nur vor, wie der Geruch eines einfachen Gerichts wie Hirn mit Ei sich mit dem eines flaumigen Kaiserschmarrns oder von marillenmarmeladeduftenden Palatschinken vermischt. Ausnahmen bilden höchstens orientalische oder asiatische Kochbücher, denn diese begleiteten meine Nase mit relativ einheitlichen und in sich stimmigen exotischen Düften.
Bücher aus Bibliotheken blieben mir eine Leben lang fremd, denn sie hatten durch ihre mehr oder minder bewegte Geschichte eine Art Einheitsgeruch angenommen, der sie völlig uninteressant machte. Wenn ich sie etwa berufsbedingt in Händen halten musste, dann trachtete ich danach, sie möglichst fern von meiner Nase zu halten.

Meine Favoriten sind auch heute noch Bücher in Buchhandlungen, in denen mehrere Exemplare des selben Buches aufeinander gestapelt vor mir liegen. Bei diesen ist der Geruch ursprünglich und durch keine zu große Benutzung verdorben. Dabei habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, nicht das oberste Buch zu untersuchen, sondern eines aus der Mitte des Stapels. Das versuche ich dann so unauffällig wie möglich zu untersuchen, und nicht selten fange ich mir durch mein Verhalten kopfschüttelnde Blicke ein. Zum Glück sind die Frequenzen in Buchhandlungen nicht zu jeder Tageszeit gleich hoch, sodass ich meine Besuche dementsprechend antizyklisch planen kann. Wenn ich die Bücher nach einer positiven olfaktorischen Erkundung erwerbe, lasse ich diese auch nicht in einen der üblichen Papiersäcke verpacken, sondern stecke sie nach der Bezahlung in ein zu diesem Zweck in meiner Umhängetasche vorbereitetes, geruchsmäßig neutrales Behältnis, das ich zuvor ausreichend entduftet habe. So kann ich sicher sein, bei meiner weiteren Beschäftigung mit dem Buch nicht enttäuscht zu werden.

Übrigens fand ich im Laufe der Jahre einige verwandte Seelen, die wie ich Büchern in dieser besonderen Form nachspüren, wobei ich auf diese vor allem in kleinen Buchhandlungen abseits der Stoßzeiten traf. Besonders eindrucksvoll war die Begegnung mit einer Seelenverwandten, die neben der Nase auch hie und da ihren Geschmackssinn nutzte, um Büchern nachdrücklich auf die Spur zu kommen. Dazu konnte ich mich bisher allerdings noch nicht durchringen, auch wenn bekanntlich beide Sinne eng miteinander verbunden sind. Aber, wer weiß …


Abgedruckt im Literarischen Jahrbuch 2023 Facetten, S. 49-52.
Zu hören im Podcast der Literarursendung Federspiel #98 vom 15. Mai 2023 https://de.cba.fro.at/619524 ab Minute 10:10.