Schon als Kind war ich von Büchern fasziniert und entwickelte eine ausgeprägte Leidenschaft für deren sinnliche Erkundung. Ich liebte es, ein neues Buch zum ersten Mal in die Hand zu nehmen, es von allen Seiten zu betrachten, sorgfältig zu begreifen und nicht zuletzt an diesem zu riechen. Dabei stellte ich mir vor, welche besonderen Düfte und Aromen in dem Buch verborgen sein mochten. Ganz besonders bevorzugte ich gebundene Bücher, da ich Taschenbücher olfaktorisch als wenig ansprechend empfand. Am meisten erfreuten mich Bücher mit Schutzumschlägen, denn der Geruch darunter war besonders intensiv. Schon in dieser Zeit entwickelte ich Rituale, um Bücher sorgfältig mit meiner Nase zu erkunden – vom Titel über den Rücken bis hin zum Vorsatz und dann zu einzelnen Seiten, um die unterschiedlichsten Geruchserlebnisse zu finden.

Schon in jungen Jahren entdeckte ich dabei meine Vorliebe für bestimmte Literaturgenres, die auf eine geheimnisvolle Weise mit meinen Geruchserfahrungen verbunden waren. Manchmal war es sogar notwendig, zwei oder drei Riechgänge durchzuführen, um eine besonders intensive Duftprägung zu erfassen. Bevor ich dann vorsichtig das Buch aufblätterte und den Titel las, verbanden sich in meiner Wahrnehmung der Buchgeruch und der literarische Titel zu einem ganz besonderen Gemenge. Nach der Erkundung der äußeren Gerüche begann für mich schließlich die eigentliche Entdeckungsreise des Buches. Ich öffnete es an einer zufälligen Stelle und näherte mich den Seiten langsam mit geschlossenen Augen, bis ich schließlich mit meiner Nase vollkommen eintauchte. Diesen Vorgang wiederholte ich je nach Umfang des Buches drei- bis viermal, um all die geheimnisvollen Aromen in mich aufzunehmen. Es war, als würde ich durch das Buch in eine andere Welt eintauchen, die sich all meinen Sinnen erschließen sollte.

Auch heute nutze ich beim anschließend optisch geleiteten Zugang zu den Büchern meine Nase immer wieder, um meine Sinneswahrnehmung und Vorstellung des Inhalts zu vertiefen. Ich frage mich dann, welche spezifischen Gerüche dem Autor oder der Autorin während des Schreibprozesses präsent waren. Vielleicht war es der Duft frisch gebrühten Kaffees, der ihre Konzentration förderte, oder das wächserne Aroma einer brennenden Kerze, das eine der Erzählung adäquate Stimmung des Schreibenden erzeugte. War es das herbe Bouquet eines Glases Rotwein, das der Autor an seiner Schreibmaschine sitzend zu Unterstützung seiner gedanklichen Reisen nutzte. Gleichzeitig überlege ich, welche Gerüche die Literaten bei ihren Lesern evozieren wollten. Sollten im Wortsinn erlesene Düfte die Fantasie anregen und die Empfänger tiefer in die Handlung eintauchen lassen? Riecht es in der beschriebenen Umgebung der Protagonisten nach feuchter Erde, nach Meeresluft, nach verbranntem Papier oder nach Baumharz? Solche olfaktorischen Eindrücke tragen maßgeblich dazu bei, die Atmosphäre und Stimmung eines literarischen Werkes für mich erlebbar zu machen. Neben den offensichtlichen optischen und akustischen Eindrücken – Bücher entwickeln beim Aufschlagen, Umblättern und Zuklappen individuelle Klangmuster – spielt bei mir daher der Geruchssinn wohl die zentrale Rolle bei der Interpretation und Vergegenwärtigung des buchstäblich Gedruckten.

Schon als Kind faszinierten mich die Düfte fremder Welten. In den Abenteuerbüchern von Karl May tauchte ich ein in die Gerüche knisternder Lagerfeuer, feierlich entzündeter Friedenspfeifen, schweißnasser Pferde und stechenden Schießpulvers. Diese sinnlichen Eindrücke begleiteten mich nicht selten in meine Träume. Später verfielen meine Gedanken oft Prousts Erinnerungen an Swanns Kindheit, in denen der Duft von heißem Tee und Madeleine-Keksen nicht nur ihn in eine vergangene Zeit zurückversetzte.

Seltsamerweise fand ich Bücher, die sich explizit mit Gerüchen befassten, meist wenig fesselnd. So empfand ich den Bestseller „Das Parfum“ von Patrick Süskind zwar als literarisches Meisterwerk, empfand die detaillierten Geruchsbeschreibungen aber als eher literarisch überfrachtet denn als authentische sinnliche Erfahrung. Auch Kochbücher konnten mich nie so recht begeistern, da die geruchliche Vielfalt der Speisen meinen Appetit manchmal eher hemmte als anregte. Lediglich orientalische oder asiatische Kochbücher mit exotischen und für Kulturfremde wie mich in sich stimmigen Aromen vermochten zu faszinieren. Am meisten fremdelte ich mit Büchern aus Bibliotheken. Sie hatten durch ihre geruchsmäßig bunte Geschichte einen einheitlichen, neutralen Geruch angenommen, der mich eher uninteressiert und distanziert ließ. Ich vermisste dann den individuellen Duft, der jedes Buch zu einem einzigartigen Erlebnis hätte machen können. So blieben mir viele Bücher, die ich eigentlich gerne gelesen hätte, in gewisser Weise fremd und unnahbar.

Manchmal begegne ich Büchern, deren Ausdünstungen unangenehm oder sogar streng sind. In solchen Fällen versuche ich, sie möglichst weit von meiner Nase fernzuhalten. Besonders während meines Studiums war ich gezwungen, mich auf manches olfaktorische Abenteuer einzulassen, wobei ich dann solche notwendigen Literaturen ins Freie oder in Räumlichkeiten wie Kaffeehäuser verlegte, in denen die geruchliche Umgebung deren Eigengeruch neutralisierte oder übertrumpfte.

Meine Lieblingsexemplare von Büchern sind diejenigen, die in Regalen eingeordnet oder auf den Tischen von Buchhandlungen sorgfältig übereinander gestapelt liegen. Deren ursprünglicher, unverfälschter Geruch ist für mich besonders reizvoll. Besonders neu erschienene Bücher üben eine starke Anziehungskraft aus. Dabei greife ich aber nicht wahllos zum obersten Buch eines Stapels, sondern wähle bewusst eines weiter unten im Stapel aus, um es gründlich zu inspizieren bzw. zu inhalieren. So kann ich deren ursprünglichen Duft erfahren, ohne durch die vielleicht schon kontaminierten darüberliegenden Bücher irritiert zu werden.

Leider erntet mein Verhalten in Buchhandlungen nicht immer Verständnis. Manche Verkäufer werfen mir verwunderte Blicke zu, wenn sie mich bei meinen Erkundungen beobachten. Glücklicherweise gibt es aber Zeiten mit weniger Betrieb, in denen ich mich in aller Ruhe meinen Geruchserkundungen widmen kann. Wenn ich ein Buch aufgrund seines angenehmen Duftes erwerbe, lasse ich es auch nicht einfach in eine meist mit Werbung für andere Bücher versehene Papiertüte verpacken, sondern stecke es vorsichtig in einen zuvor sorgfältig entdufteten, geruchsneutralen Behälter, den ich in meiner Tasche stets mit mir führe. So kann ich sicher sein, dass der jungfräuliche Zustand auch bei der weiteren Beschäftigung erhalten bleibt.

Eine bemerkenswerte Begegnung hatte ich jüngst mit einer Person, die ähnliche Interessen wie ich teilte. Sie nutzte neben dem Geruchssinn offensichtlich auch den Geschmackssinn, der ja physiologisch und psychologisch eng mit dem Riechen verbunden ist. Obwohl mich diese Beobachtung fasziniert hat, habe ich mich bisher noch nicht dazu durchringen können, Bücher auch auf diese Weise zu erkunden. Vielleicht werde ich in Zukunft mutiger und mich auch dieser Herausforderung stellen.


Erscheint in LITERARISCHES ÖSTERREICH – Jahrbuch des Österreichischen Schriftsteller⁄innenverbandes 2024/2025