Da saß er nun in dem Dorfwirtshaus. Unter Fremden. Er sah diese Menschen zum ersten Mal. Und zum letzten Mal. Neben ihm saß die Frau, mit der sein Vater die letzten zwölf Jahre in diesem Provinznest zusammengelebt hatte. Auf dem Weg in die Aufbahrungshalle, schwer auf seinen Arm gestützt, hatte sie geweint. In der Kirche, als der Pfarrer das Leben seines Vaters nachgezeichnet hatte, hatte sie noch mehr geweint. Nun schwieg sie, während er mit dem ihm gegenübersitzenden Pfarrer sprach. Sein Vater sei ein guter Christ gewesen, habe ihn oft in der Kirche aufgesucht. Dieser war zu diesem Zeitpunkt im Leichenwagen des örtlichen Bestatters in die entfernte Hauptstadt unterwegs, in der er im Familiengrab neben seiner vor Jahren verstorbenen Frau liegen wollte. Nicht auf dem windigen Dorffriedhof in der Provinz.

Er vermied, an diesem Tag über das Erbe zu sprechen. Wie er es auch schon zu Lebzeiten des Vaters vermieden hatte. Das nicht unbeträchtliche Erbe umfasste den Erlös zweier Häuser, die vor etlichen Jahren verkauft worden waren, die Millionenerbschaft seiner Schwester aus den Vereinigten Staaten, das Geld, das er in einem bescheiden geführten Leben auf Kosten seiner Mutter beiseite gelegt hatte. Auch bei Spielzeug und Geschenken war gespart worden. Sparsamkeit hatte Familientradition. Bei den in den letzten Jahren selten gewordenen Begegnungen sagte er immer wieder mit Genugtuung: „Du wirst überrascht sein, wie viel es inzwischen geworden ist!“

Er wollte sich überraschen lassen, denn es schien ihm als einzigem Sohn pietätlos, geradezu peinlich, noch zu Lebzeiten vom Sterben und Erben zu reden. Er wehrte den Gedanken an den Tod seines Vaters ab, wie er überhaupt alle Gedanken an den Tod abwehrte. Alles zu seiner Zeit. Und auch jetzt, während des Totenschmauses mit den ihm völlig unbekannten Verwandten der Frau, die sein Vater unmittelbar nach dem Tod seiner Mutter aus dem Hut seiner Vergangenheit gezaubert hatte – einen ehemaligen Kurschatten, wie der Pfarrer in der Kirche in Umschreibungen der Dorfgemeinschaft verraten hatte -, fand er es geschmacklos, von Testament und von Erbschaft zu sprechen. Zumal sein Vater immer wieder versichert hatte, dass für die Gefährtin seiner letzten Tage vorgesorgt wäre, was aber nicht sein Erbe schmälern würde. Das Erbe dreier Generationen.

Er hatte seinen Vater in den letzten Jahren zwei- oder dreimal im Jahr besucht. Häufiger besuchte ihn sein noch rüstiger Vater in der Hauptstadt, dort, wo er mit seiner Mutter über fünfzig Jahre gelebt hatte. Nur in den letzten Wochen, nachdem sein Vater nach einem Krankenhausaufenthalt beschlossen hatte, nichts mehr zu essen und zu trinken, hatte er ihn im Haus seiner Lebensgefährtin wöchentlich besucht. Er lag in einem für ihn organisierten Krankenhausbett. Es war kaum noch ein Gespräch mit ihm zu führen. Er hatte mit der Welt abgeschlossen und wartete auf das Ende. Die Lebensgefährtin hatte zuletzt eine tschechische Betreuerin angestellt, da sie auf Grund einer Behinderung nicht in der Lage war, ihn ausreichend zu betreuen.

Die Nachricht vom Tod seines Vaters erhielt er in der Schlange an der Kasse in einem Supermarkt stehend.

Auch beim Auseinandergehen nach dem zwei Tage später stattfindenden Begräbnis in der Hauptstadt, bei dem seine Verwandtschaft Abschied nahm, und dem die Lebensgefährtin ohne dörflichen Anhang beiwohnte, redete er mit ihr nicht vom Erbe. Das wäre gleichfalls pietätlos gewesen, kaum dass sein Vater unter der Erde war. Schließlich war er der einzige Sohn. Sein Erbe.

Die Einladung des Notars aus der Bezirkshauptstadt, der die Verlassenschaft des Vaters von Rechts wegen abwickeln sollte, nahm er zur Kenntnis. Am Vorabend des Gesprächs machte er für sich eine überschlagsmäßige Aufstellung der Vermögenswerte, die er erwarten konnte. Befriedigt stellte er fest, dass es summasummarum etwa eine Million Euro sein müsste. Er würde es vor allem dafür verwenden, bleibende Werte für seinen eigenen Sohn zu schaffen. So, wie es sein Vater für ihn getan hatte.

Nun saß er beim Notar in der fernen Bezirkshauptstadt. Die Lebensgefährtin seiner Vaters war trotz Einladung nicht erschienen. Nach deren Auskunft habe es kein Testament gegeben, sondern nur ein handschriftliches Legat, das Sachwerte wie Geschirr oder Bilder betrifft, die sein Vater zu Lebzeiten in das Haus der Lebensgefährtin, das er ausbauen hatte lassen, verbracht hatte. Dass unter diesen Sachwerten auch der Schmuck seiner Mutter war und Erinnerungsstücke an seine Großväter – eine Uhr von Kaiser Franz Josef persönlich überreicht, eine Handschrift aus dem 13. Jahrhundert, die vor langer Zeit unter mysteriösen Umständen aus einem Kloster in den Familienbesitz gelangt war –, schmerzte ihn. Er bereute, diese Gegenstände nicht schon früher von seinem Vater erbeten zu haben, doch dieser wähnte sie wohl in guten Händen. Die Frau hatte stets Zuneigung zu seinem Vater gezeigt. Nicht zuletzt hatte sie ihm den Betreuungsaufwand für den weit über 90-Jährigen abgenommen.

Er entnahm den weiteren Ausführungen, dass er Alleinerbe sei und dass außer dem schon erwähnten Legat an seine Lebensgefährtin alles ihm zufalle. Der Notar kam zu den Konten: ein Wertpapierkonto und das zugehörige Verrechnungs- und zugleich Gehaltskonto bei der örtlichen Raiffeisenbank. Das Wertpapierkonto beinhalte aktuell einige Anleihen südamerikanischer Staaten zu einem Nominalwert von etwa zehntausend Euro, auf dem Gehaltskonto sei ein Minus von zweitausend Euro, das sich aus der Rückforderung der zuletzt ausgezahlten Beamtenpension ergebe. Sparbücher oder andere Konten seien von der Lebensgefährtin keine genannt worden. Auch habe die Recherche bei anderen Banken keine Hinweise auf weitere Konten ergeben.

Er suchte nach Worten. Es müsse wesentlich mehr sein, die Erlöse der verkauften Häuser, die Erbschaft aus Amerika, mehrere Sparbücher mit hohen Beträgen …

Er fasste sich nach einigen Minuten des Schweigens und bat den Notar, noch einmal Nachforschungen anzustellen. Das könne er natürlich tun, allerdings sei die Chance gering, noch auf weitere Vermögenswerte zu stoßen, denn er sei auf die Angaben der Frau angewiesen. Wenn er ihm Konten bei anderen Banken nenne, dann forsche er diesbezüglich nach. Er sollte es vielleicht selber mit sanftem Druck bei der Frau versuchen. Ihr mit den Finanzbehörden bezüglich der behaupteten Schenkung drohen. Allerdings sei vor einigen Jahren die Erbschaftssteuer und mit dieser die Schenkungssteuer abgeschafft worden. Ein Sparbuch, das auf einen Überbringer laute, könne jeder einlösen, der das Losungswort nennt. Von einer Anzeige wegen Testamentsunterschlagung rate er ab, denn bei einem solchen Verfahren stehe immer Aussage gegen Aussage. Auch seien die Gerichts- und Anwaltskosten bei der genannten Streitsumme nicht unerheblich. Ein Testament ohne Notariatsakt sei eben ein Blatt Papier, das man zerreißen oder verbrennen könne. Der Notar machte dabei das lächelnde Gesicht eines Wissenden darum, wie solche Dinge laufen. Im übrigen riet ihm der Notar, die schriftliche Ausfertigung abzuwarten, und dann als Alleinerbe bei der Bank im Dorf auf Basis der Einantwortungserklärung vorstellig zu werden. Für ihn sei die Angelegenheit erledigt, wenn er unterschreibe und das Erbe antrete.

Gemeinsam mit seinem Sohn saß er nach einigen Wochen beim Filialleiter der Raiffeisenbank des Dorfes. Er hatte mehrmals mit diesem telefoniert, ob er ihm nicht auf Grund der übermittelten Einantwortungserklärung vorab die Kontoauszüge der letzten Jahre zukommen lassen könne. Schließlich sei er als Erbe des Vaters dazu von Gesetz wegen berechtigt. Erst nach einer Rücksprache mit der Rechtsabteilung der Zentralbank war der Filialleiter bereit, ihm ausschließlich bei persönlichem Erscheinen die Daten der beiden Konten zur Verfügung zu stellen. Diese Daten bestanden in einem langen, unübersichtlichen Computerausdruck, aus dem hervorging, dass sein Vater vor zehn Jahren nach der Übersiedlung aus der Hauptstadt Wertpapiere im Ausmaß von etwa achthunderttausend Euro hierhin übertragen hatte lassen. Diese waren in den letzten zwei Jahren nach und nach auf ein anderes Konto transferiert worden. Das Konto könne der Filialleiter aus Gründen des Bankgeheimnisses nicht preisgeben. Immerhin seien doch einige argentinische und bolivianische Staatspapiere auf dem Konto. Das professionelle Lächeln des Filialleiters wurde beim Verlassen der Bank zu jenem wissenden, das er schon beim Notar beobachtet hatte.

Sollte er unmittelbar nach diesem Gespräch zur Lebensgefährtin seines Vaters gehen und sie nach dem verbliebenen Erbe fragen? Es fordern? Sein Sohn riet ihm, in dieser Verfassung nicht ein Streitgespräch zu führen, sondern es schriftlich zu versuchen. Auf der mehrstündigen Autofahrt in die Hauptstadt war er schweigsam.

Noch am selben Tag verfasste er einen Brief, in dem er eher überrascht als aggressiv nach dem Verbleib der übrigen Sparbücher und Wertpapiere fragte. Er stellte eindringlich die Frage nach dem Testament, von dem sein Vater immer wieder in seinen Briefen gesprochen hatte. Er legte dem Schreiben kopierte Briefe seines Vaters bei, in denen er ihm den gesamten Familienbesitz versprochen hatte. Er fügte auch eine Kopie jenes Briefes bei, in dem sein Vater ihm versichert hatte, dass er sich nach seinem Tod nicht um die Lebensgefährtin sorgen müsste, denn das hätte er selber schon getan, indem er das Haus um über einhunderttausend Euro ausbauen bzw. ein Wertpapierkonto über einen gleich hohen Betrag einrichten hätte lassen. Das würde ihr einen sicheren Lebensabend ermöglichen.

Die Antwort kam nach etwa drei Wochen, war ausführlich und von einem Rechtsanwalt verfasst. Es gäbe kein Testament, sondern nur das Legat. Dieser rechnete ihm laut Auskunft der Lebensgefährtin penibel vor, dass sein Vater ihm schließlich vor vierzig Jahren ein Studium finanziert hätte, beim Wohnungskauf vor dreißig Jahren einen Zuschuss hätte zukommen lassen, für seinem Sohn einen Bausparvertrag abgeschlossen, und ihm und dem Sohn immer wieder kleinere Geldgeschenke zum Geburtstag oder zu Weihnachten gemacht hätte. Das ergäbe insgesamt immerhin einen Betrag von ziemlich genau fünfzigtausend Euro. Die Lebensgefährtin sei aber ohne jegliche Verpflichtung bereit, ihm den Schmuck seiner Mutter auszuhändigen. Dem Brief lag eine handschriftliche Aufstellung der Schmuckstücke bei, die diese in die Ehe mitgebracht hatte, und die sich durch die notorische Sparsamkeit seines Vaters in den fünfzig gemeinsamen Jahren kaum vermehrt hatten.

Er war nach der Lektüre des Briefes einen Tag nicht ansprechbar.

Nach einer schlaflosen Nacht beschloss er, einen Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen. Schließlich besaß er eine Rechtsschutzversicherung für den Fall der Fälle. Sein Versicherungsberater machte einen Juristen in der Nähe namhaft, der in Erbschaftsangelegenheiten versiert wäre.

Der Rechtsanwalt mit dem passend klingenden Namen Krass war ihm vom ersten Augenblick an unsympathisch. Dieser studierte sämtliche Unterlagen über die Konten und die Briefe des Vaters, um ein Schreiben an den Rechtsanwalt der nun deklarierten Gegenseite zu verfassen, und in schärferem Ton das Erbe zu fordern. Er werde bei der Versicherung nachfragen, inwieweit die Prozesskosten bzw. in welcher Höhe gedeckt wären.

Zahlreiche Schreiben gingen zwischen den beiden Anwälten hin und her. An die Versicherung wurden ebenfalls einige Anfragen bezüglich der Kostenübernahme verfasst. Alles in allem zogen sich diese Verhandlungen an die zwei Jahre hin, wobei es meist telefonischen und kaum persönlichen Kontakt zwischen ihm und dem Anwalt gab, da dieser bei seinen Anrufen bei Gericht, auf Urlaub oder einfach nicht da war. Er erhielt von allen Schreiben eine Kopie „Zur gefälligen Kenntnisnahme“, doch bewegte sich in dem förmlichen Hin und Her nichts. Beide Seiten beharrten auf ihren Positionen.

Schließlich bat ihn der Rechtsanwalt zu einem Gespräch in seine Kanzlei, die versteckt im Hinterhof neben einer Tanzschule lag. Es sei nur mit einem Prozess etwas zu machen, eröffnete dieser das Gespräch, wobei er ihm empfehle, vorher gut zu überlegen, ob er im Verlustfall die allfälligen Kosten tragen möchte, denn die Versicherung habe ihm nun abschließend mitgeteilt, dass sie in dieser Causa nicht verpflichtet sei, die Kosten zu übernehmen, da die Malversationen zu Lebzeiten des Vaters stattgefunden hätten, also nicht ihn sondern den Vater beträfen. Beinahe freundschaftlich empfahl ihm der Rechtsanwalt, den Prozess eher zu vermeiden, da hier Aussage gegen Aussage stünde, und eine arme, leicht behinderte Frau aus dem Dorf gegen einen wohlhabenden, eloquenten Akademiker aus der fernen Hauptstadt vor einem hiesigen Gericht schon auf Grund des Mitleideffektes gute Chancen habe, glaubwürdiger zu wirken. Er empfehle, die angebotenen Schmuckstücke seiner Mutter anzunehmen. Natürlich stünde er für den Fall eines Prozesses zur Verfügung. Er habe jetzt ein dringendes Telefonat zu führen. Er könne während dessen in Ruhe darüber nachdenken, wie es weiter gehen soll.

Nach knapp zehn Minuten kehrte der Rechtsanwalt in sein Büro zurück. Er bat ihn, die Abwicklung der Übergabe des Schmuckes zu übernehmen.

Nach einer Woche erhielt die Nachricht, dass der Schmuck seiner Mutter nebst einigen Fährnissen eingetroffen wäre und in der Kanzlei abgeholt werden könnte. Beim kurzfristig angesetzten Termin fand er auf dem Besprechungstisch des Rechtsanwaltes eine große Schachtel, in der einmal ein großer Fernsehapparat geliefert worden war. Gemeinsam mit dem Rechtsanwalt prüfte er den Inhalt. Der Schmuck seiner Mutter befand sich in einer bunten Zigarrenschachtel, die er aus seiner Kindheit kannte, denn seine Mutter hatte darin das goldene Bettelarmband und ihre Ohrringe aufbewahrt. Sie trug selten Schmuck, zu Familienfeiern oder Begräbnissen. Den restlichen Inhalt der großen Schachtel bildeten an die fünfzig leere, mit Samt ausgeschlagene Etuis, in denen sein Vater Goldmünzen aufbewahrt hatte. Es tue ihm leid, sagte der Rechtsanwalt. Die Rechnung werde er ihm zuschicken.

Nach zwei Tagen erhielt er die Abrechnung. Penibel waren alle Schreiben, Aktenvermerke und Telefonate aufgeführt, die im Zusammenhang mit dieser Causa angefallen waren. Der ausführliche Briefwechsel mit der Versicherung fand sich genauso in der sieben Seiten umfassenden Liste wie die zahlreichen Telefonate mit ihm. Summasumarum waren es knapp zehntausend Euro. Am Ende der Rechnung die von Krass handschriftlich angebrachte Bitte zu einem persönlichen Gespräch in der Kanzlei.

Im Gespräch eröffnete ihm Krass, nachdem er die Tür zum Vorzimmer, in dem zwei Sekretärinnen saßen, geschlossen hatte, dass man über die Höhe der Rechnung reden könne. Er sei mit fünftausend Euro zufrieden, von denen dreitausend in bar zu entrichten seien. Ohne Nachdenken willigte er ein, verließ die Kanzlei, und kehrte nach kurzer Zeit mit dem Geld zurück. Krass legte das Kuvert ohne es zu öffnen in seine Schreibtischlade. Er bedauerte nochmals, als er ihn zur Türe begleitete, dass es kein besseres Ende der Causa gäbe. Auf dem Weg durch den Hinterhof kam ihm das Lächeln auf dem Gesicht des Rechtsanwaltes bekannt vor.

Wenige Tage später erhielt er die offizielle Rechnung über zweitausend Euro, in der von einer ausgemachten pauschalen Abgeltung dieser Causa die Rede war.

Er überwies den Betrag postwendend.