Wenn man im Alter suchend auf sein Leben zurückblickt, schwingt oft bedauernd mit, dass sich einst so viel Neues ereignet hat. Vieles, dem man mehr oder weniger nachtrauert, manches auch, bei dem man froh ist, dass diese Zeit vorüber ist. Etwa die Zeit der Prüfungen, denen man sich stellen musste, die Zeit der beruflichen Anforderungen, denen man mit Bangen entgegengeblickt hatte, die Zeit der Wendungen und Überraschungen im Positiven wie im Negativen. Jetzt im Alter kann nur wenig überraschen, gibt es selten Kreuzungen, an denen man sich für eine Richtung entscheiden muss. Und wenn hinter der nächsten Biegung etwas lauert, dann vielleicht eine Krankheit oder der Tod eines Nahestehenden. Etwas, an das man eher nicht denken will. Aber sonst?

Bei der Geburt ist alles neu, sowohl für den kleinen Menschen als auch für seine Mutter und seinen Vater. Beim ersten Kind ist für alle fast alles neu, beim zweiten Kind können Eltern auf Routinen zurückblicken, und beim nächsten – auch wenn das heutzutage eher die Ausnahme ist – bestimmt schon Erfahrung das Handeln.

Es dauert einige Zeit, bevor dieser kleine Mensch durch feste Abläufe des Tages wie das Erwachen oder die Nahrungsaufnahme seinen eigenen Rhythmus bekommt. Auch wenn er es zu dieser Zeit wohl noch nicht denken kann, er wird es irgendwann fühlen: Immer wieder geht am Morgen die Sonne auf, immer wieder zieht die Mutter die Vorhänge im Kinderzimmer beiseite und lässt das blendende Tageslicht herein, immer wieder schmeckt die Muttermilch oder der Brei ähnlich wie am Vortag. Mit Vertrautem und sich Wiederholendem gewinnt ein Kind Sicherheit und Zuversicht.

Wenn die Kinder auf den Spielplatz, in den Kindergarten oder in die Schule gehen, ist zunächst vieles neu und überraschend. Dieses Neue füllt den Alltag vor allem von jenen Kindern, die offen und neugierig auf die noch nicht erforschte Welt zugehen. Im Grunde sind alle Kinder neugierig auf die Welt, es sei denn, die Umstände, meist Menschen, hindern sie daran. In dieser Zeit spielen Wiederholungen noch keine allzu große Rolle, denn jeder Tag verspricht ein neues Abenteuer. Aber auch hier sind es immer mehr die selben Menschen, denen man begegnet, sind es die gleichen Orte, die man aufsucht, sind es die selben Stimmen und Stimmungen, die den Tag begleiten. Allmählich beginnen die Routinen des Lebens zu laufen, der selbe Bus oder die selbe Haltestelle, das selbe Pausenbrot oder die selbe Lehrerin, das selbe Fernsehprogramm, das selbe Computerspiel. Auch hier entstehen feste Abläufe, Handgriffe, Regeln, sogar Überraschungen beginnen sich zu wiederholen. Selbst wenn Routinen Ordnung in das Leben bringen, wohnt ihnen doch stets die Möglichkeit inne, dass sich Unerwartetes ergibt: ein Umzug in eine größere Wohnung, ein Schulwechsel, ein neuer Lehrer, ein neuer Sportverein.

Irgendwann findet man die ersten Freunde, vielleicht die erste Liebe, kann die nächste Begegnung kaum erwarten, findet einen Beruf, gründet eine Familie. Auch dabei ereignet sich zunächst vieles unerwartet, doch lernt man bald, mit Unwägbarkeiten umzugehen, baut sie in seine Pläne ein, um nicht überrascht zu werden. Das Leben beginnt zu fließen und in diesem Alter blickt man nur selten zurück, vertraut sich den gewohnten Abläufen der Tage, der Wochen, der Jahre an, die nur selten von Ereignissen unterbrochen werden, die den geraden Weg behindern. Mit den Lebensjahren beginnt sich immer mehr zu wiederholen: der tägliche Weg zur Arbeit, das gemeinsame Frühstück mit dem Partner, mit den Kindern. Die Abläufe am Arbeitsplatz, die selben Streitigkeiten mit den Kollegen. Selbst Unternehmungen an Wochenenden, die Urlaube werden irgendwann zur Gewohnheit, zu Wiederholungen.

Wenn man dann ab einem gewissen Alter auf sein Leben zurückblickt, entdeckt man, dass diese frühen Jahre einen wesentlich größeren Raum in den Erinnerungen einnehmen als die eben erst vergangenen, die von Wiederholungen geprägt waren. Wer kann in der Erinnerung noch den einsiebzigsten Geburtstag vom siebzigsten unterscheiden? Die Psychologie hat dafür den treffenden Begriff des Reminiszenz-Höckers geprägt. Bei älteren Menschen, die man ihr Leben erzählen lässt, stammen die meisten Erinnerungen aus der Phase, in der sie zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig waren, mit einem Höhepunkt um ihr zwanzigstes Lebensjahr. Man hat auch herausgefunden, dass die Zahl der Erinnerungen ab dem zehnten Lebensjahr schnell ansteigt, den Höhepunkt um die zwanzig erreicht und dann Richtung dreißig wieder abflaut. Dieser Reminiszenzeffekt beginnt, wenn Menschen auf die Sechzig zugehen, und wird danach immer stärker, ist bei Achtzigjährigen stärker als bei Sechzigjährigen, und es gibt eine Studie, die gezeigt hat, dass der Reminiszenzhöcker bei Menschen von hundert und mehr Jahren gleichfalls höher ist als bei Achtzigjährigen. Übrigens: Sogar Alzheimerpatienten erinnern sich meist besonders gut an die Zeit des Erwachsenwerdens, weil sich damals große Teile ihrer Identität gebildet haben, die ihnen bis zu diesem Tag in immer mehr verschwindenden Spuren geblieben sind.

Daher kommt es auch, dass einem im Alter die Kindheit und Jugend plötzlich wieder ganz nah werden, wobei Erinnern ähnlich ist wie Heimweh zu haben. Heimweh nach einer Zeit, die einem doch einmal gehört hat. Allmählich dämmert die Erkenntnis, auch um die späten Lebensjahre nicht resignierend abschreiben zu müssen, dass ein immer größerer Teil des Lebens aus Wiederholungen besteht. Und irgendwann stellt man fest: Immer wieder … das ist das Leben.


* Reminiszenz-Höcker bezeichnet jene Kurve, die sich ergibt, wenn man entlang einer Lebenslinie die Häufigkeit der spontan erinnerten Ereignisse einzeichnet.


Erschienen in der Kulturzeitschrift LANDSTRICH Nr. 37 „UND IMMER WIEDER„.

ISBN: 978-3-9504026-8-1
Preis: 18 €

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