Mnemosyne gebar dem Zeus nicht nur die neun Musen, sondern brachte nach anderer Tradition auch drei titanische Töchter zur Welt: Melete, die für die Übung steht, Aoide für den Gesang und Mneme, die die Erinnerung symbolisiert.

Von Geburt an – genau genommen schon lange davor – geht das menschliche Leben eine unausweichliche Allianz mit der Zeit ein, die fortan das Leben in jedem Augenblick in Vergangenes, in dahinhuschendes Gegenwärtiges und in ungewisses Zukünftiges teilt.

Während wir der Gegenwart mehr oder minder ausgeliefert sind und die Zukunft schicksalshaft offen bleibt, ist das Vergangene unabänderlich, denn alles, was geschehen ist, ist geschehen. Dieses Vergangene ist dabei sowohl das Fundament, auf dem wir leben, gleichzeitig auch die Last, die von Tag zu Tag sich mehrend, mitgeschleppt werden muss.

Das Vergangene mit seinen bewussten und unbewussten Erinnerungen, ist eingeschrieben in das, was wir leichthin simplifizierend Gedächtnis nennen. Auf der einen Seite sind diese Erinnerungen stabil, denn sie bestimmen die Identität des Einzelnen. Man stelle sich nur vor, eines Morgens aufzuwachen und sich an nichts erinnern zu können. Nicht an das, was gestern war, in der letzten Woche, im letzten Lebensjahr. Man wüsste nicht, wer oder was man ist. Die menschliche Identität besteht aus einer unüberschaubaren Anzahl von Erinnerungen, die Kontinuität schaffen, die es erst ermöglichen, sich als Individuum in der Welt zurecht zu finden. Solche Erinnerungen sind mit dem Einzelnen fest verbunden, sie machen das aus, was jemand ist und was jemand geworden ist.

Auf der anderen Seite sind Erinnerungen permanent in Gefahr, denn jedes Mal, wenn man eine davon wachruft, ist sie in dem Augenblick des Hervorkramens aus tausend anderen flexibel, plastisch, formbar. Und das geschieht, ohne dass wir allzu großen Einfluss auf diesen Veränderungsprozess haben. Da unser Gedächtnis keine Aufzeichnungsmaschine ist, sondern Erinnerungen instantan dynamisch aus Bruchstücken zusammensetzt, müssen immer wieder Lücken gefüllt werden. Das führt dazu, dass wir nach einigen Wiedererinnerungen eines Ereignisses felsenfest davon überzeugt sind, dass das Automobil, das uns auf der Autobahn überholt und geschnitten hat, ein roter BMW war, auch wenn das Automobil realiter weder rot noch ein BMW war.

Jedes Erinnern ist vor allem das Ergebnis einer Selektionsmaschine, auf die Menschen nur partiell Einfluss haben. Es gibt so vieles, das man lieber für immer vergessen möchte, doch diese Versuche enden in einer Paradoxie: das, was man Vergessen möchte, setzt sich umso hartnäckiger in den Gedanken lauernd fest. Ein schönes Beispiel ist Kant, der häufig mit Merkzetteln arbeitete, um nichts zu vergessen, und bei der Entlassung seines Dieners Lampe auf einem seiner Merkzettel notierte: „Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden“. Der Erfolg dieser Methode war erwartungsgemäß bescheiden.

Menschen entwickeln selten ein Gefühl dafür, wie fragil ihre Erinnerungen sind, denn sie begännen an sich zu zweifeln, was in einem fatalen Zwiespalt auch pathologisch enden kann. Bekanntlich kann man Menschen falsche Erinnerungen einimpfen, sogar Straftaten, die dann im Gehirn repräsentiert sind und sich nicht von tatsächlich Geschehenem unterscheiden. Solche false memories haben schon unschuldige Menschen ins Gefängnis gebracht, weil Zeugen von Dingen berichten, die sich nie ereignet haben. Letztlich erweist sich, dass wir nur einen kleinen Teil der Erinnerungen unter wissentlicher Kontrolle haben. Das gilt insbesondere dann, wenn wir Erinnerungen nur zu gerne in eine wünschenswerte Richtung verändern würden.

Permanent, vor allem während des Schlafs, verändern sich die Erinnerungsbruchstücke in unserem Gedächtnis, ordnen sich neu und Menschen haben oft große Mühe, diesen Veränderungen zu folgen. Nicht nur Lernende machen die Erfahrung, dass oft Wichtiges dem Vergessen anheimfällt. Daher ist Vergessen wohl im Vergleich zum Erinnern der mächtigere Prozess, der Menschen nicht nur im Alter Angst macht. Doch sollten wir diese komplementäre Schwester der Erinnerung nicht allein unter der Perspektive des Verlusts sehen, sondern auch deren Nützlichkeit im Auge haben. Schließlich befreit das Vergessen die Menschen vom Ballast des Trivialen und Unmerklichen, übersieht das Banale des Alltäglichen und die langweilige Wiederkehr des ewig Gleichen.

Nicht wenige Menschen würden gerne Traumatisches und Ungeliebtes aus ihren Gedanken löschen, erhoffen vom Trinken des Wassers aus dem Fluss Lethe das endgültige Vergessen. Diese mythologische Symbolik entspringt wohl einer gewissen Sehnsucht des Menschen, sich manchmal von der eigenen Vergangenheit oder wenigstens Teilen von ihr trennen zu können.

So regiert im Leben der Menschen oft Mneme, diese Tochter Mnemosynes, deren Name trefflicher Weise auch jenen mythologischen Fluss bezeichnet, dessen Wasser die Erinnerungen an Verdrängtes, Verborgenes und scheinbar Vergessenes immer dann hochspült, wenn es unerwartet und wohl manchmal auch unerwünscht ist.

Übrigens: Wie hießen doch die beiden anderen Töchter Mnemosynes am Beginn dieses Textes? ;-)



Verfasst für das Programmheft „WEHMUT“ der Münchner Symphoniker anlässlich eines Konzertes am 3. November 2019 im Herkulessaal der Münchner Residenz.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Mythologe

    In der griechischen Mythologie und in Platons Politeia wird über die zwei Flüsse Lethe und Mnemosyne des Hades berichtet, wobei Menschen, die das Wasser des Lethe trinken, alle Erinnerungen verlieren, während das Wasser des Mnemosyne hingegen ihre Erinnerungen stärken und die Gabe der Allwissenheit verleihen sollte. Auf einigen Grabinschriften aus dieser Zeit heißt es, dass die Toten aus dem Fluss Lethe tranken, um ihr Leben zu vergessen, um sich bei ihrer Wiedergeburt nicht mehr an ihr früheres Leben zu erinnern. Platon erzählt auch von Menschen, die die eine mystische Religion praktizierten, indem sie aus dem Fluss Mnemosyne tranken, um Erleuchtung zu erlangen, denn sich an jedes Detail ihres jetzigen und früheren Lebens zu erinnern, wurde als eine Form der Offenbarung empfunden. Die Griechen vermuteten, dass die Wirkung des Wasser aus dem Fluss Lethe bis in die frühe Kindheit anhielt, was erklären sollte, warum sich Menschen nicht an ihre Geburt und die ersten Jahre ihrer Kindheit erinnern können.

  2. Friedrich Nietzsche

    Wirf dein Schweres in die Tiefe! Mensch, vergiss!
    Mensch vergiss![…]
    Wirf dein Schwerstes in das Meer!
    Hier ist das Meer, wirf Dich ins Meer!
    Göttlich ist des Vergessens Kunst!

    In der Schrift »Zur Genealogie der Moral« thematisiert Nietzsche wie in diesem Gedicht die Vergesslichkeit als Kunst oder auch als »Kraft«. Die Vergesslichkeit stellt hier ein »positives Hemmungsvermögen« dar, einen Counterpart für das, was Nietzsche »Gedächtnis« nennt. Das Gedächtnis ist bei Nietzsche innerhalb der Trias Leib, Subjekt, Societät verortet. Durch zivilisatorische Prozesse wird dem Menschen ein Gedächtnis ›gemacht‹. Das Gedächtnis als ›Gedächtnis des Willens‹ fungiert dabei als Kitt sozialer Ordnungen, das heißt, Gesellschaft geht aus den in die Individuen hinein installierten Gedächtnissen hervor. Mit dieser »Gedächtnismachung« teleologisch verknüpft ist die potenzielle Eigenschaft des Subjekts, versprechen zu dürfen. Die »Kraft der Vergesslichkeit« tritt dem Gedächtnis des Willens, welches Nietzsche sich wie eine künstlich geschaffene Malaise vorstellt, dabei als quasiontologische Größe gegenüber. In der »Genealogie der Moral« heißt es: »Eben dieses nothwendig vergessliche Thier, an dem das Vergessen eine Kraft, eine Form der starken Gesundheit darstellt, hat sich nun ein Gegenvermögen angezüchtet, ein Gedächtnis, mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird, – für die Fälle nämlich, dass versprochen werden soll«. Es ist jene Heranzüchtung, wie Nietzsche es nennt, der Verantwortlichkeit, der Kontinuität des Willens, die sich in der Position des Versprechen-Dürfens bestätigt, die für Nietzsche ein Herrschaftsmerkmal darstellt. Ein Herrschaftsmerkmal, das nicht zuletzt darin besteht, eine Selbstidentität des Subjekts zu generieren und zu garantieren . Denn nur derjenige gilt als mächtig – wir würden heute sagen, gilt als Subjekt – der versprechen darf, dem ein Gedächtnis »angezüchtet« wird. Das Gedächtnis des Willens darf hier nicht allein auf den Verstand bezogen oder gar voluntaristisch verstanden werden. Deutlich wird dies, wenn Nietzsche davon spricht, dass »diese Macht über sich und das Geschick versprechen zu dürfen, beim Menschen bis in seine unterste Tiefe hinab gesenkt hat und zum dominierenden Instinkt geworden ist. Das Gedächtnis des Willens ist vielmehr eine Art instinktive soziale Zwangsjacke, es handelt sich bei diesem um eine Macht, die bis in die körperlichen Impulse, verstanden als Instinkte, hineinwirkt. Die soziale Zwangsjacke soll dabei die Selbstidentität und die an diese teleologisch gebundene, hierarchisch angeordnete soziale Ordnung aufrecht erhalten.

    Quelle
    Wuttig, Bettina (2013). Der Fall des Traumas: Nietzsches Leibphilosophie als Weg zur Rekonstruktion erinnerbarer Geschlechterordnungen. Geschlecht als Erinnerungstechnik denken. Universität Marburg.

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