Im Stall zu Bethlehem ging es hoch her, denn nicht nur die Hirten mit ihren Schafen drängten sich um die Heilige Familie, sondern auch die heiligen drei Könige waren schon planmäßig eingetroffen und überreichten ihre Geschenke. Das Jesuskind lächelte ihnen zu und die Könige beugten ihre Knie, denn sie fühlten, dass dieses Lächeln eine Botschaft der unendlichen Liebe war. Josef und Maria standen schweigend dabei und staunten bloß, was da alles mit ihnen und ihrem Kind passierte.
Die Herbergswirtin hatte Weihnachtskekse gebacken und an alle verteilt, sodass es im Stall nicht nur glänzte und glitzerte, sondern auch nach Zimt, Lebkuchen, gerösteten Mandeln und Haselnüssen duftete.
Die Engel, die all die Menschen zur Krippe gelotst hatten, flatterten aufgeregt umher, denn einer der ihren war noch nicht von der Einladungstour zurück. Man muss nämlich wissen, dass die Engel zu ganz speziellen Berufsgruppen ausgesandt worden waren. Einer zu den Hirten, ein anderer zu den Handwerkern, ein anderer zu den Kindern. Und der fehlende Engel – eigentlich war es ja eine Engelin – war zu den Malern und Zeichnern geschickt worden.
„Diese Künstlerin, immer kommt sie zu spät!“ Sagte ein Engel.
„Wahrscheinlich hat sie sich portraitieren lassen!“ Spottete ein anderer.
Immer neue Erklärungen für die Verspätung fielen ihnen ein. Da ging plötzlich ein Raunen durch die Menge der Christusschauerinnen und -schauer. Eine lange Reihe von Menschen näherte sich dem Stall. An der Spitze die vermisste Engelin.
Obwohl die meisten von den näher kommenden Menschen – es waren fast ausschließlich Männer, aber damals wusste man noch wenig von Quotenregelungen – schon recht alt und gebrechlich aussahen, schleppten sie in Umhängtaschen und auch auf dem Rücken unzählige Utensilien mit sich: Pinsel, Tuschfedern, Bristolpapier, Aquarell- und Zeichenblöcke, Farbtöpfe und Paletten, Malstockerl und Staffeleien.
Der erste in der langen Reihe brachte gar einen Steinblock mit und begann – kaum war er im Stall angekommen – auch sofort mit einem Meißel und einem Hammer wundersame Zeichen und seltsam seitlich verdrehte Gestalten in die glatte Oberfläche zu hauen. Jesus lächelte ihm zu und wandte sich zur Seite, damit sein Profil besser getroffen würde. „Das ist ein berühmter ägyptischer Schreiber und Steinhauer!“ flüsterte das Jesuskind zu seiner Mutter Maria.
Danach drängte sich ein hagerer Mann nach vor und nahm eine Holzplatte hervor, auf der er mit einem Stichel und einem Geißfuß sichere Kerben und Schnitte setzte, um Jesus und seine Eltern nebst den drei Königen und den Hirten festzuhalten. „Das ist Albrecht, ein deutscher Künstler!“ sagte Jesus zu seinem Vater Josef, der fasziniert die Arbeit des Mannes beobachtet hatte. Er war Tischler und interessierte sich für alles, was man aus Holz machen konnte.
Danach kam ein in roten Samt gekleideter Mann mit einer Staffelei, zahlreichen Töpfchen und einem großen Pinsel an die Reihe. Er arbeitete mit Ölfarben, deren Duft sich mit dem Duft der Weihnachtskekse verband. Er arbeitete nicht nur mit dem Pinsel, sondern verteilte die Farben auch mit bloßen Fingern auf der großen Leinwand. Schon bald war das Bild der Heiligen Familie festgehalten, wobei Maria recht üppig getroffen schien, aber auch das Jesuskind war prall wie ein barocker Putto. „Der malt immer so“, kommentierte das Jesuskind das Bild, „zu seiner Zeit liebt man das Runde. Stimmt’s, Tiziano?“ Dieser neigte sein Haupt demütig und trat zurück in die Reihe der Künstler.
Da trat ein kleiner glatzköpfiger Mann vor und zauberte mit ganz wenigen Strichen seiner Zeichenfeder auf eine Speisekarte die Heilige Familie. Josef schüttelte verwundert den Kopf, als er sah, dass auf diesem Bild sein rechtes Auge unter dem linken saß und dass Marias Hand die Brust entblößte, die aber hinter der rechten Schulter lag. „Pablo liebt die Irritation, Mutter! Sieh doch, wie gut der Ochse getroffen ist!“ Das Argument überzeugte Josef wenig, denn das Rindvieh war nur ein Tintenklecks mit einigen Wischern.
Nun trat ein Mann vor, der im Hintergrund auf einem Klappstockerl sitzend mit sicheren Strichen seines Tuschpinsels die Szenerie festgehalten hatte, wobei er immer wieder vor sich hinmurmelte: „Die Zeichnung ist die Basis!“
„Das ist Erwin, der Meister des Spontanen Realismus aus Haag“, sagte das Jesuskind. Und der Esel nickte mit einem kräftigen „Iah!“ dazu, denn er fand sich und den Ochsen auch in der Negativform gut getroffen. „Aber bitte beim Aquarell nicht zu viel Spritzer“, flüsterte ihm das Jesuskind noch zu, als der Mann sich wieder in die Reihe der Künstler zurückzog.
Noch viele Maler und auch einige Bildhauer traten in den Stall, um die Szene festzuhalten. Besonders lange brauchten dabei die Holzschnitzer und Bildhauer, aber da Jesus der liebe Gott war, seine Eltern und auch die Könige Heilige waren, mussten sie naturgemäß eine große Langmut an den Tag legen.
Zuletzt schließlich trat ein kleines Mädchen vor, das einen Zeichenblock in der Hand hielt, auf dessen Deckblatt ein liegender Hase zu sehen war, den einer der Maler beim Vorbeigehen hingezaubert hatte. Das Mädchen war ein wenig unsicher, aber dann fasste es Mut, und zeichnete mit einem schon stumpfen, grünen Buntstift drei Strichmännchen auf das Blatt Papier. Zwei größere für Josef und Maria, und ein kleineres für das Jesuskind. „Sehr schön!“ lobte das Jesuskind, als ihm das Mädchen zögernd die Zeichnung hingehalten hatte.
Josef und Maria wussten nicht, was sie sagen sollten, und schwiegen. Einige Umstehende schüttelten nur den Kopf. „Das ist doch keine Kunst!“ sagte einer. „Das kann doch jeder!“ flüsterte ein anderer.
Da sprach Jesus zu dem Mädchen: „Eines Tages wirst du das trefflichste Bild von mir malen!“ Dabei sah das Jesuskind, das bisher immer gelächelt hatte, ein wenig traurig aus und seine Stimme schien zu zittern.
Das Mädchen musste wohl recht ratlos ausgesehen haben, sodass Jesus noch leise hinzufügte, damit es nur das Mädchen hören konnte: „Glaube mir, Veronika!“
Weihnachtsgeschichte für MalerInnen
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Eine Antwort zu „Weihnachtsgeschichte für MalerInnen“
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sehr, sehr fantasievoll und hübsch!!!
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