Wie ein Foto den Sommer der Kindheit zurückbrachte

Hühnereigroße Hagelschloßen

Es war ein Foto auf der Titelseite meiner Tageszeitung. Es zeigte eine kräftige Männerhand, in der drei große Hagelschloßen lagen. Danach ein Bericht über Unwetter, die am Vortag über das nördliche Niederösterreich gezogen waren. Unter dem Bild: Die Hagelkörner haben die Größe von Hühnereiern erreicht und Schäden an Hausdächern, Fahrzeugen und der kommenden Ernte angerichtet.

Ich muss damals drei oder vier Jahre alt gewesen sein, als ich wie schon die Jahre davor mit meinen Eltern einige Sommerwochen in diesem Einstraßendorf namens Wertenau verbrachte. Wenn von Wertenau Rede war, hieß es, dass wir auch heuer wieder „hinauf“ fahren werden. Und dieses Hinauffahren bedeutete eine mehrere Stunden dauernde Reise auf holprigen Straßen und unter mehrmaligem Umsteigen von Postbus zu Postbus. Beim Einsteigen und der Platzsuche musste man darauf achten, nicht über einem Rad zu sitzen, denn dann bekam man die Straßenqualität so intensiv mit, dass mir und meiner Mutter immer wieder übel wurde, und der Bus manchmal sogar hielt, damit einige Mitfahrende sich an der frischen Luft ein paar Augenblicke lang erholen konnten.

Zu dieser Zeit verbrachten in Wertenau auch die Eltern meines Vaters ihre Sommerfrische, da die Familie aus dieser Gegend stammte, aber schon in jungen Jahren nach Pottendorf ins südliche Niederösterreich gezogen war. Mein Großvater hatte in Karlstein, das in der Nähe von Wertenau liegt, das Uhrmacherhandwerk gelernt, und eine Frau aus der Gegend geheiratet. Er betrieb in der Hauptstraße des neuen Wohnsitzes einen kleinen Juwelier- und Uhrmacherladen. Einige ihrer Kinder, also meine Onkel und Tanten, lebten damals ebenfalls in Pottendorf, das diese auch nach einer Heirat nie verlassen hatten.

Für einige Wochen des Sommers fiel ich also mit meiner Verwandtschaft in dieses sonst vor sich hinsterbende Straßendorf ein, in dem es außer einem nur an Wochenenden betriebenen Gasthaus mit Kegelbahn keine Geschäfte oder Betriebe gab. Hier lebten nur ältere Bauernehepaare, deren Kinder vor Ort keine Perspektive gesehen hatten und in „die Stadt“ gezogen waren, meist „hinunter“ nach Wien.

Unsere Familien waren in dieser Sommerfrische verteilt bei verschiedenen und aus der Familienvergangenheit offensichtlich bekannten Bauern untergekommen. Ich bewohnte mit meinen Eltern ein Zimmer in einem Haus ganz „am Anfang“ des Dorfes, das einer Frau Adam gehörte, die zwei Töchter hatte, die manchmal an den Wochenenden aus Wien zu Besuch „herauf“ kamen. Diese hatten dabei einmal ihre Haare auf weiß gebleicht, was eine schier unerschöpfliche Möglichkeit zu wiederkehrenden Dorfgesprächen über die beiden gab. Unten in Wien, also in der Stadt in der ich mit meinen Eltern lebte, herrschten offenbar seltsame Sitten.

Am anderen Ende des Dorfes lebte eine Familie, deren Sohn zu dieser Zeit in Karlstein das Uhrmacherhandwerk erlernte, und der sehr viel später einmal das Geschäft meines Großvaters in Pottendorf übernehmen sollte. Diesem Zusammenhang habe ich aber erst nach dem Tod meines Großvaters erfahren. Dass das Haus, in dem ich mit meinen Eltern wohnte, für mich den „Anfang“ des Dorfes bildete, lag daran, dass es in Wertenau keine Bushaltestelle gab, und man gezwungen war, von dem einige Kilometer entfernten Nachbarort mit Bushaltestelle über einen schmalen Feldrain nach Wertenau zu marschieren. Die Straße, auf der der Bus fuhr, führte aber recht nahe an Wertenau vorbei, sodass gnädig gestimmte Busfahrer hie und da einen außerplanmäßigen Halt einlegten, und Wertenauer den sonst erforderlichen langen Marsch durch die Felder ersparten.
Zwischen dem Anfang und den Ende des Dorfes lag eine schmale Dorfstraße. Wenn es geregnet, oder wie meist in dieser Gegend, geschüttet hatte, verwandelte sich diese wegmäßige Verbindung, an die sich die durchwegs ebenerdigen Häuser drängten, in eine schlammige Angelegenheit, wobei noch Tage danach große Lachen von den Regengüssen erzählten.

Onkel Franz war das einzige Mitglied unserer Familie, der in Wertenau in seinem Bauernhaus geblieben war. Dieses Haus bestand aus einem quer zur Dorfstraße liegenden gedrungenen Steinbau mit vier oder fünf hintereinander liegenden Räumen, einer daran im rechten Winkel anschließenden hölzernen Scheune, die mit ihrem unter dem Dach liegenden Heuboden das Haus weit überragte, und einem dem Wohnhaus gegenüberliegenden Kuhstall. In diesem lebte eine Kuh namens Liesl, die ihren Stall nach meiner Erinnerung nur verließ, wenn sie als Zugtier gebraucht wurde. Ich sehe noch, wie mein Onkel, der alleine lebte, jeden Tag mit einem einbeinigen Schemel, der um seinen Körper angebunden war, und einem Kübel in diesen Stall ging und Liesl molk. Bei diesem Bild steigt mir sofort der intensive Geruch des Stalls in die Nase, und ich sehe auch den Schwanz, mit dem die Kuh während des Melkens die Fliegen vertrieb, die überall auf ihrem Körper und vor allem auf ihrem Maul saßen. Ich höre auch noch, wie Onkel Franz lachte, wenn Liesl ihn mit dem blonden Haarbüschel am Ende des Schwanzes am Kopf oder der Schulter getroffen hatte.>

An der vierten Seite um diesen von den drei Bauwerken gebildeten Hof lag an der Straßenseite ein mannshoher Holzzaun mit dem einflügeligen Eingangstor, und dicht daneben der Misthaufen, auf den ein breites Brett als Rampe führte, über die mein Onkel von Zeit zu Zeit das mit Kuhfladen getränkte Streu aus Liesls Stall mit einer Scheibtruhe hinaufbeförderte und oben ausleerte. Zwar liefen in diesem Hof auch ein paar Hühner und ein Hahn herum, aber ich erinnere mich nicht daran, dass letzterer jemals den Misthaufen aufgesucht und dort gekräht hätte.
Übrigens besaß auch Frau Adam, bei der ich mit meinen Eltern wohnte, eine Kuh, auf der ich sogar einmal reiten durfte, doch an
deren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, auch wenn sie bestimmt einen gehabt hatte.

Ein großer Teil von Liesls Milch wurde dann in eine großen Kanne zu dem Haus getragen, in welchem meine Großeltern einquartiert waren. Dort traf sich gelegentlich die ganze Familie zu einem Mittagessen, bei dem es manchmal Schweinsbraten mit Waldviertler Erdäpfelknödel gab, die auch meine Mutter in Wien zubereitete, aber höchstens zu Feiertagen wie Weihnachten und Ostern. Eher ungern erinnere ich mich noch an die fast täglich servierte Stoßsuppe, die mir schon aufgrund der seltsamen Farbe und Konsistenz nicht behagte, obwohl sie doch so gut und nicht zuletzt gesund wäre.

Unsere Familie war in diesen Sommerferien aber nicht allein zur Erholung nach Wertenau gekommen, sondern auch dazu angehalten, meinem Onkel Franz bei der Arbeit, insbesondere bei der Getreideernte zu helfen. Genau genommen waren es die Frauen, die bei der anstehenden Feldarbeit Onkel Franz zur Hand gingen, während mein Vater, mein Großvater und meine Onkel in den umliegenden Wäldern nach Schwammerln suchten. Nur beim Dreschen des Getreides waren die Männer in der Scheune dabei, wobei sie sich in einem Kreis angeordnet mit Dreschflegeln, von denen man sich als Kind fernhaften musste, das auf dem Scheunenboden liegende Erntegut in einem gut geübten Rhythmus bearbeiteten.
Meine Großmutter war nie bei der Feldarbeit dabei, denn offenbar kochte sie während dieser Zeit für die Familie. Undeutlich habe ich aber in Erinnerung, dass sie hie und da mit Flaschen und Jausenbroten auf das nahe liegende Feld gekommen war. Klarer höre noch das durchdringende Geräusch, wenn Onkel Franz immer wieder die Sense hochhielt und mit einem Schleifstein bearbeitete, der in dem mit Wasser gefüllten Kumpf an seinem Gürtel hing. Wenn er nach dem Schärfen seine Mäharbeit fortsetzte, folgten ihm meine Mutter und die anderen Frauen der Familie, und fassten die gemähte Kornhalme mit einer Sichel zu einem Bündel zusammen. Das geschah dadurch, indem sie einige der Halme aus dem Bund herauslösten und um die restlichen Halme schlangen und verknoteten. Ich sehe jetzt auch noch die durch diese Arbeit geschundenen Hände der Frauen, die sie am Abend nach einem Erntetag mit Nivea eincremten. Mehrere dieser Kornbündel wurden von den Frauen danach zu einem Kornmandl aneinander gelehnt, sodass sie eine Art Zelt bildeten. Oben auf dieses Zelt kam ein weiteres Bündel, das mit den Ähren nach unten auf die anderen gesteckt wurde.

Ich begleitete dabei wohl immer meine Mutter, die bei dieser Arbeit wie alle anderen Frauen ein Kopftuch trug, damit ihr bei der gebückten Arbeitshaltung das Haar nicht ins Gesicht fiel. Ich weiß auch noch, dass ich einzelne Halme, die die Frauen übersehen hatten, einsammelte und meiner Mutter brachte, die sie dann in eines ihrer Bündel einflocht.

An einem solchen Erntetag wurden wir von einem Unwetter überrascht, da aufgrund der bei der Feldarbeit auf den Boden gerichteten Aufmerksamkeit die sich auftürmenden dunklen Wolken nicht rechtzeitig erkannt worden waren. Nach ersten uns alle überraschenden schweren Regentropfen fielen unvermittelt Hagelkörner vom Himmel. „In die Mandl!“ rief Onkel Franz und so kam es, dass ich mit meiner Mutter in einen der von den Getreidebündeln gebildeten engen Hohlräume flüchtete, von wo wir sehen konnten, wie mit einem auf dem Ackerboden seltsam stillen Einschlag die Hagelschlossen hernieder prasselten. Sie wären hühnereigroß, sagte meine Mutter. Auch wenn sie dabei ein besorgtes, ängstliches Gesicht machte, empfand ich in diesem Augenblick keine Angst und genoss das Schauspiel. Bald bedeckten die großen Hagelschloßen den sonst hellbraunen aber nun durch den Regen beinahe schwarz gewordenen Boden, aus dem noch einzelne Stoppeln der Halme ragten. Ich war fasziniert von den herumhüpfenden weißen Kugeln, die das Feld allmählich winterlich weiß werden ließen. Was nach dem Unwetter geschah, daran habe ich keine lebendige Erinnerung mehr. Außer dass einige Tage später mein Onkel auf dem mit dem Getreide beladenen Wagen, vor die Liesl gespannt worden war, darüber klagte, dass der Hagel große Teile des Getreides ausgedroschen hätte.

Irgendwann, ich denke es war um meinen Schuleintritt herum, war es mit dem Hinauffahren ins Waldviertel vorbei. Es hing wohl damit zusammen, dass mein Vater dann besser verdiente und wir uns einen richtigen Sommerurlaub leisten konnten, denn die Tage in Wertenau waren wohl sehr günstig gewesen.

So hat die Zeit diese Tage meiner Kindheit immer mehr aus meinem Gedächtnis gelöscht, bis das Bild mit den drei Hagelschloßen jene Tage oben im Waldviertel wieder lebendig werden ließ. An Onkel Franz erinnern mich heute zwei irdene Teller mit blauer Handbemalung, die in meinem Geschirrschrank stehen, aber nie benutzt werden. Ich hatte diese vor etlichen Jahren an einem kalten Wintertag nach seinem Begräbnis, zu dem ich meinen Vater begleitet hatte, aus seinem Haus als Erinnerungsstücke mitnehmen dürfen. Anlässlich des Begräbnisses erfuhr ich manch Überraschendes aus dem Leben meiner Vorfahren, etwa warum Franz damals in Wertenau geblieben war und nicht wie die anderen sein Glück unten in Wien oder sonstwo gesucht hatte.

Doch das ist eine andere Geschichte.


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Kommentare

Eine Antwort zu „Wie ein Foto den Sommer der Kindheit zurückbrachte“

  1. Avatar von JIIWS

    Ich habe einer KI (TextCortex) diese Geschichte vorgelegt und auf Fehler prüfen lassen:
    „Dieser Text ist sehr gut geschrieben und enthält nur wenige kleinere Fehler. Hier sind die Korrekturen und Anmerkungen:
    „Hagelschloßen“ sollte „Hagelschlossen“ sein (zweimal im Text).
    „Schwammerln“ ist eine österreichische Dialektform. In Hochdeutsch wäre es „Pilze“ oder „Schwämme“.
    „Kumpf“ ist korrekt, aber ein eher selten verwendeter Begriff. „Wetzsteinbehälter“ wäre eine Alternative.
    „Kornmandl“ ist ein regionaler Ausdruck. In Hochdeutsch wäre es „Getreidegarbe“ oder „Getreidepuppe“.
    „hernieder prasselten“ könnte zu „herniederprasselten“ zusammengezogen werden, ist aber auch getrennt korrekt.
    „Waldviertler Erdäpfelknödel“ ist korrekt, aber regional. In Hochdeutsch wäre es „Waldviertler Kartoffelknödel“.
    „Stoßsuppe“ ist vermutlich ein regionaler Ausdruck. Eine Erklärung wäre hilfreich für Leser, die nicht mit diesem Begriff vertraut sind.
    Insgesamt ist der Text sehr gut geschrieben und vermittelt lebendige Erinnerungen an eine vergangene Zeit. Die verwendeten regionalen Ausdrücke tragen zur Authentizität bei und passen gut zum Inhalt. Abgesehen von den wenigen oben genannten Punkten gibt es keine nennenswerten Rechtschreib- oder Grammatikfehler.“
    Bei Hagelschloße irrt hier die KI, wie mir der Duden bestätigt!