„Hab mich gern!“ sagte der Engel, schlug mit den Flügeln und flog auf seine Wolke, faltete die Hände und verdrehte die Augen nach oben, so wie man es auf manchen Barockfresken in katholischen Kirchen sieht.
Das machte er immer, wenn er beleidigt ist.
Da hilft dann kein „Hab dich nicht so!“ oder „Ich hab’s ja nicht so gemeint!“
Da ist er stur. Und wenn er besonders sauer auf mich ist, fängt er auch noch ein „Halleluja“ zu singen an, obwohl er wie die meisten Engel nicht wirklich singen kann. Das Gerede vom himmlisch schönen Engelsgesang ist ein Märchen wie vieles, das man uns Menschen in der Schule erzählt hat.

So ein privater Engel ist im Allgemeinen recht praktisch und beinahe immer da, wenn man ihn braucht. Kaum weiß man einmal nicht weiter, kommt er angeflattert: „Mein Chef hat gesagt, ich soll dir helfen. Was gibt’s?“
Meist schicke ich ihn wieder zurück auf seine Wolke Nummer 17-11-47. Jeder Engel sitzt seit der Verwaltungsreform von 1517 auf einer nummerierten Wolke mit einer himmlischen Sozialversicherungsnummer. 
Auch Engel müssen in die Schule – früher saßen sie auf der Schulter ihrer Schützlinge. Einsagen war streng verboten, sonst gab es eine Strafwolke. Da mussten sie stundenlang schreiben: ‚Ich darf nicht einsagen!‘ – bis ein Regenguss sie durchnässte und alles wieder löschte. Bevor sie dann wieder zu ihrem Schützling zurückgeschickt wurden, kamen sie für ein paar Stunden in die Hölle zum Trocknen.

Dieses Mal war mein Engel richtig sauer, denn schon im Wegfliegen stimmte er ein Halleluja an, dass ich mir die Ohren zuhielt. Was war geschehen? Ich hatte beschlossen, meine Partnerin zu verlassen. Zu sehr hatte sie mich in tiefster Seele enttäuscht. In die Wut mischte sich Enttäuschung, denn auch mein Schutzengel hatte mich frustriert sitzen lassen. Es gelang mir nicht, ihn zu einem Gespräch zu bewegen. „Für Trennungen sind wir nicht zuständig! Da musst du dir schon einen Teufel suchen!“
Bei Liebeskummer helfen Engel wenig – meist heulen sie mit. Und ihre Taschentücher riechen dann auch noch nach Weihrauch. Engel sind übrigens sehr geruchsempfindlich, besonders gegenüber Pech und Schwefel. Vermutlich kommt das von den Straftrocknungen in der Hölle.
Manchmal werden auch erfahrene Schutzengel von den Ereignissen überrascht und da kann ihren Schutzbefohlenen das Schicksal schon gehörig um die Ohren fliegen. Tagelang kann man sich ein betretenes „Bei Gott! Ich hab’s wirklich nicht vorhergesehen!“ anhören. Statt den Menschen zu trösten, sind sie mit der Wiederherstellung ihres angeknacksten Ego beschäftigt. Dieses Mal ist mein Engel genauso wie ich aus allen Wolken gefallen. Wir purzelten beide hinab, hinab, hinab …
Ich war jedoch nicht nur aus allen Wolken gefallen, sondern auch mitten in der Hölle gelandet. Da saß er nun, mein privater Teufel – auch die werden einem bei der Geburt zugeordnet und sitzen dann auf einem nummerierten Glutnest mit der umgekehrten Nummer 74-11-71 – und lächelte mir zu. So breit und freundlich wie mein Engel gar nicht lächeln konnte. Für die Aquisitionsphase sind Teufel entschieden besser geschult.
Und da war auch schon das erste Angebot: „Retaliation in kind“ im Managerjargon. Oder auf biblisch: „Auge um Auge, Zahn um Zahn!“ „Haben wir gerade in Aktion“, lockte der Teufel. „Ist ohne Nebenwirkungen und wirkt sofort!“ Der Teufel wedelte mit dem Vertrag: „Einfach unterschreiben und all deine Probleme sind weg!“ Er hielt mir eine goldene Füllfeder hin, die eigentlich ein kleiner Flammenwerfer war. Um aus der Hitze wegzukommen, nahm ich das Schreibwerkzeug und setzte schon zur Unterschrift an, dort, wohin er ein kleines brennendes Kreuzchen in den Vertrag gesetzt hatte. Unter dem Unterschriftsfeld entdeckte ich einen großen glosenden Fleck. „Was ist das?“ fragte ich.
„Nur die üblichen Standardklauseln, die brauchst du nicht lesen!“
Ich zögerte.
„Ja, lies sie genau!“ hörte ich von Ferne ein beschwörendes Rufen. Mein Schutzengel flatterte als kleiner Lichtpunkt – wie ein Glühwürmchen in einem toskanischen Weinberg – erregt auf und ab: „Unterschreib nicht! Du verkaufst deine Seele und dein Glück dazu!“
„Habt ihr hier denn kein besseres Licht?“ fragte ich, um Zeit zu gewinnen.
„Wozu braucht der Mensch ein Licht?“
„Um das Kleingedruckte zu lesen“, entgegnete ich. „Ich werde den Vertrag einmal mitnehmen und komme morgen wieder vorbei!“
„Das kannst du doch nicht machen! Morgen ist die Aktion vielleicht vorbei!“
„Das Risiko muss ich eingehen! Vielleicht ist es dann ja auch noch billiger!“ Schließlich kannte ich den Ausverkauf nach dem Ausverkauf recht gut.
Ich faltete den Vertrag zusammen und fuhr, umschwirrt von den Überredungsversuchen meines Teufels – dabei haben sie paradoxerweise Engelsszungen -, mit einem klapprigen, ächzenden Lift ins Erdgeschoß, wo ich mit meiner Partnerin gelebt hatte. Der Lift aus der Hölle fuhr absichtlich quälend langsam, untermalt von weihnachtlicher Kaufhausmusik.

Mein Schutzengel empfing mich flügelflatternd.
„Ich werde ihn unterschreiben!“ versicherte ich. „Ich muss nur noch das Kleingedruckte lesen! Morgen gehe ich zurück und …!“
„Das kannst du mir doch nicht antun! Halleluja! Halleluja! Halleluja!“
Schutzengel fluchen natürlich nicht. Höchstens ein „Halleluja“ oder ein „Jessas Maria!“ kommt über ihre Lippen – damit ist ihr einschlägiges Repertoire aber schon erschöpft. Das Fluchen überlassen sie uns Menschen. Dann muss man als Sterblicher allerdings damit rechnen, dass sie einen böse anschauen – auch Schutzengel können böse dreinschauen! – und kopfschüttelnd in den Herrgottswinkel flattern, um für unsere durch das Fluchen beschmutzte Seele ein paar Vaterunser zu beten. Bei manchen Menschen kommen sie aus dem Beten gar nicht heraus. Da ist dann schon Wiedergutmachung angesagt, etwa ein paar Sonntage in die Kirche gehen oder gar vor jeder Kirche, an der man vorbeikommt, ein Kreuz zu machen. „Das machst du doch nur wegen mir, und nicht wegen meinem Chef!“ Durchschaut wird man von Engeln nämlich auch.
Und täuschen kann man seinen Schutzengel überhaupt nicht. Einmal ertappte er mich beim heimlichen Schokoladeessen. Am Ende verspeisten wir sie gemeinsam, damit keine Flecken ins Leintuch kamen.
Dieses Mal waren nach meiner Rückkehr aus der Hölle aber Flecken überall, so viele, dass ich sie nicht zählen konnte. Es war, als wäre ein prall mit all dem Schmutz des Lebens gefüllter Luftballon all jener Illusionen zerplatzt, die sich im Laufe eines langen Lebens fast zwangsläufig ansammeln – schlechte Gewohnheiten, lieblose Unaufmerksamkeiten, provokante Sticheleien, gedankenlose Rücksichtslosigkeiten, Unverständnis aus Bequemlichkeit, grundlose Eifersucht, Zorn über Triviales – alles, was es in einem katholischen Schulkatechismus so an Sünden zu lesen gibt. Kleinigkeiten im Einzelnen, aber in der Summe so groß, dass sie eines Tages all das Schöne, das es auch gegeben hatte, zudeckten. Ich sah ringsum keine Stelle mehr, wohin ich meinen Fuß hätte setzen können, ohne nicht wieder in eine der noch feuchten Schmutzlachen zu treten. Ich war ernüchtert und verzweifelt.
„Du willst doch den Vertrag nicht wirklich unterschreiben! Das ist doch nicht dein Stil!“
„Warum sollte ich nicht mit gleicher Münze zurückzahlen? Hast du etwas Besseres anzubieten?“
„Nein“, sagte mein Engel ein wenig kleinlaut, „denn so weit kann auch ich nicht in die Zukunft schauen! Das kann nur der Chef.“
„Frag ihn,“ forderte ich ihn auf, obwohl ich genau wusste, dass man von der Leitungsebene nie eindeutige Antworten erhält, sondern nur vage Formulierungen wie „Unsere Verträge sind auf Nachhaltigkeit ausgerichtet!“ oder „Mit uns haben Sie in eine glänzende Zukunft!“
„Aber schau dir doch all die Flecken an, wie sollen wir die jemals wegbekommen?“ sagte ich resignierend.
Ganz betrübt saß mein Schutzengel da und schaute mich starr an, als ob er in meinen Augen eine Lösung hätte finden können, in denen ob der Ausweglosigkeit der Situation abermals Tränen standen.
„Hör auf zu Heulen!“ bat er, sonst muss ich auch wieder heulen und die Taschentücher sind uns beim letzten Mal ausgegangen!“
„Die braucht man in der Hölle auch nicht!“ trumpfte ich auf. In der Hölle gibt es auf Grund der Hitze nämlich keine Tränen, sondern nur das prasselnde Feuer der Schadenfreude, des Triumphes, recht zu haben, und der süßen Rache.
„Aber all das Schöne, dass du bisher in deinem Leben mit ihr erlebt hast, das ist dann doch auch mit einem Federstrich weg!“
Damit hatte er zwar recht, denn das Aufgeben der gemeinsamen Vergangenheit war einer der Hauptpunkte im Vertrag mit dem Teufel, doch das war in meiner tristen Lage eher verlockend: „No way back!“
Dennoch schwieg ich angesichts meiner und meines Engels Ratlosigkeit erst auch einmal.

Die Erde drehte sich inzwischen ein paar Mal um sich selber. Ich weiß nicht wie oft. Wir – mein Engel und ich – schwiegen und ließen uns einfach drehen. Irgendwann dann:
„Halleluja! Ich hab’s! Sie ist doch eine Evangelische!“
„Ja, mit einem Band um den Hals“, bestätigte ich nach einigem Zögern. „Schon ein wenig vom Leben zerknittert …“
„Daran bist du nicht unschuldig, und für die Flecken hier überall aus eurem Leben bist in der Mehrzahl du selber verantwortlich!“
„Nur der riesige Fleck da ganz vorne, der ist sicher nicht von mir!“
„Fleck ist Fleck!“ sagte mein Schutzengel. „Wir brauchen Hilfe!“
„Wie stellst du dir das vor?“ rief ich meinem Engel nach, der plötzlich ganz aufgeregt mit seinen Flügeln flatternd wie eine Feuerwerksrakete abhob.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da gesessen hatte, denn ich war nach endlos langem Grübeln, in denen ein Teufel und ein Engel miteinander kämpften, in einen erlösenden, traumlosen Schlaf gefallen.
Als ich wieder aufwachte, hörte ich zwei Engel tuscheln, meinen und einen evangelischen Reserveengel, der offenbar von höherer Stelle für meine Partnerin bestimmt worden war. Gemeinsam sollten wir nun die Flecken wegputzen.
„Ans Werk, lieber Freund“, rief mein Engel. 
Und ich wusste, es blieb mir nichts anderes übrig.