Es war unentscheidbar, ob es dem kubanischen Rum, dem Meeresrauschen oder dem Rhythmus der Regentropfen geschuldet war: Krösswang war eingeschlafen.

Aus dem Schlaf gerissen wurde Krösswang durch ein scharrendes Geräusch. Als er die Augen blinzelnd öffnete, lag neben ihm in einem Liegestuhl eine Frau mit langen rotblonden Haaren in einem grün schillernden Badeanzug. Er schloss sicherheitshalber noch einmal die Augen und überlegte, ob er träumte oder wachte, doch als er die Augen abermals öffnete, lag die Frau noch immer neben ihm. Sie hatte wohl seinen Blick gespürt und warf ihm ein Lächeln zu, das Krösswang veranlasste, jenes Gesicht zu machen, das eher nicht als charakteristisch für besondere Scharfsinnigkeit wahrgenommen wird. Kurz: er machte ein belämmertes Gesicht mit weit aufgerissenen Augen und halb geöffnetem Mund. Krösswang hatte das Gefühl, dass sein Verstand überall nur nicht dort war, wo ihn die Wissenschaft vermutet.

Krösswang richtete sich auf, nahm geistesabwesend einen Schluck Batida de Côco und setzte zum Sprechen an.

„Bringen Sie mir bitte auch ein solches Getränk?“, kam sie seinen Worten mit einer Stimme zuvor, die ihn regelrecht paralysierte.

Krösswang beugte sich wie in Trance zur Kühltasche und holte die Flasche heraus, die noch zur Hälfte gefüllt war.

„Ich habe aber kein zweites Glas“, stotterte er.

„Ich trinke auch aus der Flasche“, erwiderte die Frau, beugte sich zu ihm und nahm die eher unschlüssig gehaltene Flasche aus seiner Hand und machte einen kräftigen Schluck. Zwar passte dieses Verhalten gar nicht zur Situation und schon gar nicht zu ihrem Äußeren, aber Krösswang war in diesem Moment ohnehin nicht in der Lage, Fragen der Etikette und der Angemessenheit zu beurteilen.

Krösswang war schlicht überwältigt.

„Und jetzt gehen wir schwimmen“, sagte sie bestimmt und nahm Krösswang an der Hand. Ehe er sich versah, folgte er ihr mitten durch die Wand, auf die jetzt der Beamer einen sonnigen Strand projizierte. Er fühlte sich wie in einem jener Werbespots, bei denen die Protagonisten in Sekundenbruchteilen durch ein ganzes Leben oder die halbe Welt reisen.

Krösswang schien auch nicht zu gehen, denn der Sand unter seinen Füßen knirschte nicht, sondern er schwebte gleichsam an ihrer Hand hinunter zum Fluss.

Sie ließ seine Hand los und sprang mit einem anmutigen Satz ins Wasser.

„Komm!“, forderte sie Krösswang auf. „Komm!“

In rauschhaftem Gehorsam folgte er ihr, und obwohl er alles andere als mutig war, hechtete er mit einem Sprung, den er sich selber nie zugetraut hätte, ihr nach in die Fluten. Krösswang war kein guter Schwimmer, doch an ihrer Seite trug ihn das Wasser, teilte sich gleichsam biblisch vor ihm, sodass er ihr problemlos folgen konnte.

Und das, obwohl sie flussaufwärts schwammen.
linzer-auge

Auf Höhe des Lentos wandte sie sich um, nahm ihn abermals an der Hand und zog ihn unter Wasser. Krösswang war auch kein guter Taucher, aber er fühlte sich jetzt wie für das Wasser geboren. Die sonst grünbraune Donau war klar und lichtdurchflutet, und als sie bei der Nibelungenbrücke angekommen waren, entdeckte er, dass sie nackt war und sich ihre Beine in eine glitzernde Flosse verwandelt hatten.

Krösswang hatte längst aufgehört, sich zu wundern.

Mit ihrer Flosse schlug sie gegen einen Brückenpfeiler, der sich augenblicklich in ein gläsernes Tor verwandelt, durch das tausend und abertausend Lichtstrahlen in den Fluss stachen.

„Komm!“, zog sie ihn mit sich und durch das Tor.

Geblendet schloss Krösswang die Augen. Als er sie wieder öffnete, befand er sich in einer weitläufigen Halle, die ziemlich genau an der Stelle lag, wo die Linzer die Tiefgarage des Neuen Rathauses verorten. Ringsum glänzten weiße Wasserrosen, die sich in den Wellen schaukelten, an deren Spitzen kleine Sterne glitzerten. An einer der Wände hing ein großes Gemälde, auf dem eine riesige Schlange mit dem Linzer Auge kämpfte.

Ehe ein überwältigter Krösswang mehr in sich aufnehmen konnte, fasste ihn die Frau schon wieder an der Hand und sagte: „Komm, ich zeig dir dein neues Zuhause!“

Instinktiv fühlte er, dass Widerstand zwecklos war, und ließ sich durch ein dem Eingang gegenüberliegendes Tor über schimmernde Gänge und schwankende Treppen ziehen, bis sie schließlich vor einer Tür ankamen, die Krösswang seltsam vertraut schien. Die Frau schlug mit ihrem Schwanz gegen die Tür, die sich sogleich öffnete und den Blick auf einen Liegestuhl freigab, neben dem ein Kühltasche stand. Krösswang stolperte mehr als er ging und fiel in den Liegestuhl. In diesem Augenblick trat der trotz regenbeschlagener Brille breit grinsende Linzer Bürgermeister an das Rednerpult, erhob ein Glas Batida de Côco und verkündete: „Der Linzer Donaustrand ist eröffnet!“

Foto: Benjamin Stangl


Dieser Text konnte auf Grund der Juryentscheidung nicht mehr gelesen und von den TeilnehmerInnen an der Leseregatta 2015 gehört werden. Für sie schläft Krösswang noch immer …

 

2017 gewann dieser Text unter dem Titel „Krösswangs virtueller Donaustrand“ als der Fortsetzung der Geschichte (Krösswangs virtueller Donau.Strand) den Krösswangpreis bei AKUT 17 und wurde mit diesem gemeinsam in der Alberndorfer Anthologie No 10 veröffentlicht.

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