1
Sie zuckte mit keiner Wimper, als er in die Schuhschachtel griff, Fotos herausriss und auf sie schleuderte: „Unser Leben! Alles Scheiße?“
Nicht einmal ein Staunen fand sich in ihren Augen. Als hätte sie es erwartet.
Bei jedem Päckchen, das er immer unkontrollierter in ihre Richtung warf, wiederholte er ohne lauter zu werden: „Alles Scheiße?“
Der Ton seiner Stimme kippte ins Weinerliche. Schließlich leerte er die restlichen Fotos über ihrem Kopf aus.
Noch einmal: „Alles Scheiße?“
Sie saß noch immer regungslos.
Er verließ das Zimmer und knallte die Türe zu.
„Ja! Unser Leben! Alles Scheiße!“

2
Er versuchte, ihr seine unveränderte Liebe zu beteuern, dass doch alles nur ein Missverständnis sei. Was er aus seiner Kindheit erzählt hätte, sei doch ganz anders gemeint gewesen. Er hielt sie während seiner flehentlichen Erklärungen an beiden Händen fest, damit sie ihn nicht wie sonst in solchen Situationen einfach stehen lassen konnte.
„Du tust mir weh“, sagte sie betont ruhig. „Ich bin kein Kind, das du belehren musst!“
Er schwieg und versuchte, ihr in die Augen zu schauen. Sie wich seinem Blick aus. Wie immer, wenn er mit ihr reden wollte.
Er wiederholte, dass er doch endlich auch über ihre Kindheit reden wollte. Sie schien ihm nicht zuzuhören, denn sie wiederholte mehrere Male: „Ich werde mir nie wieder von Dir vorschreiben lassen, was ich zu tun habe.“
Resignierend ließ er ihre Hände los und ging in sein Arbeitszimmer. Sein Blick fiel auf den Schuhkarton im offenstehenden Schrank, in dem er die Familienfotos aufbewahrte.

3
Sie sagte nach einem schweigsamen Nebeneinanderhergehen unvermittelt: „Du bist wie dein Vater! Zuerst hinschlagen und dann um Verzeihung bitten.“
Tränen schossen in seine Augen.
Dieses Resümee stellte alles auf den Kopf.
War sie blind oder war er es?
Er war von diesem Vorwurf so überrascht, dass er auf dem restlichen Nachhauseweg bis zum Aufschließen der Wohnungstür nicht mehr sprach.
Wie immer half er ihr im Vorzimmer aus dem Mantel. Während er seinen Mantel an die Garderobe hing, ging sie ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen.

4
Sie hatten das Lokal schweigend verlassen und er bemühte sich, auf der belebten Straße auf gleicher Höhe mit ihr zu bleiben. Oft hatte er das Gefühl, dass sie bewusst langsamer ging, um ihn zu provozieren. Sie blieb manchmal unvermittelt vor Schaufenstern stehen, wobei er den Eindruck hatte, dass sie sich gar nicht für die Waren interessierte.
An diesem Abend aber ging sie mit einer verhaltenen Stetigkeit.
Sie ging, sonst nichts.
Hie und da blickte er zur Seite.
Verständnis hatte er erhofft, ein fragendes Wort wenigstens, eine Regung, ihre Hand auf seiner Hand, einen Blick, wenn schon nicht einen tröstenden, so doch einen Blick.
Ging etwas in ihr vor?
Da war es wieder, jenes Gefühl der Unsicherheit und der Wut, das ihn erfasste, wenn sie auf seine Fragen einfach schwieg. Wenn er versuchte sie mit Worten, mit Gedanken zu berühren, entzog sie sich seinem Zugriff in ihr Schneckenhaus. Sie baute dort eine eigene Welt, zu der er keinen Zutritt haben sollte.
Sie suchte in dieser Welt Schutz vor ihm und er verstand nicht, warum sie ihn als Bedrohung erlebte. Er hatte nie physische Gewalt gegen sie gebraucht. Sie hatte ihn vor langer Zeit einige Male geschlagen, als sie sich von Worten verletzt fühlte.

5
Er hatte sich mit ihr in einem italienischen Restaurant nach der Arbeit getroffen. Üblicherweise sprachen sie dann über den Arbeitstag, was sie erlebt hatten, weniger darüber, was sie bewegt hatte. Diese gemeinsamen Abendessen waren Routine, Alltag, Gewohnheiten. Wie Vieles nach so vielen Jahren des Zusammenlebens.
Er gab ihr, während sie beide auf das Abendessen warteten, einen kurzen Ausschnitt aus einer Erzählung, an der er gerade schrieb.
Sie war ein wenig erstaunt. Sagte aber nichts.
Sie las wortlos.
Sie sagte auch nichts, als sie ihm die Seiten zurückgab.
Sie wich seinem fragenden Blick aus, aber das war nichts Ungewöhnliches.
Die Kellnerin brachte die Gerichte. Schweigend begannen sie zu essen.
Er wollte ihr Zeit lassen.
Beim abschließenden Glas Wein zu Smalltalk zurückzukehren scheiterte an der geräuschvollen Atmosphäre des Lokals.

6
An diesem Abend würde er zu einem Dialog über ihre Vergangenheiten finden, in denen er die Wurzeln für die Krise ihrer Ehe vermutete. Er wusste von ihrer problematischen Vaterbeziehung, doch hatten sie nie darüber gesprochen. Einer beiläufigen Bemerkung ihrer Schwester hatte er entnommen, dass sie beide von ihrem Vater geschlagen worden waren.
Er schrieb zu dieser Zeit an einer Erzählung. Sein Vater war im Vorjahr gestorben und er hatte wenig Trauer für ihn. Über seine Kindheit hatte auch er wenig erzählt, denn stets wenn er davon sprach, endete es in einer für ihn unverständlichen Auseinandersetzung. Er sammelte an diesem Tag Ursachen für die nüchterne Distanz, die er stets zu seinem Vater gehabt hatte.

In der Rekonstruktion seiner Kindheit hatte er nie einen liebenden Vater entdeckt. Er kannte nur die Hand seines Vaters, den Stock und die Angst. Als Stock diente ein Teppichklopfer aus dünnen Gerten geflochten, der biegsam im Schlag ein Geräusch machte wie ein aufkommender Sturm. Ein Geräusch, das ihn später zusammenzucken ließ.
Und da war die Hand. Vor allem war es die Hand. Die zuschlagende Hand.
An eine Hand seines Vaters hatte er sich in seiner Not einmal so fest geklammert, dass wenigstens diese nicht mehr zuschlagen konnte. Sein Vater war darob so wütend geworden, dass er ihn schließlich mit dem von Metallringen zusammengehaltenen Stiel des Teppichklopfers so heftig auf den Hinterkopf schlug, bis er vor Schmerz die Hand losließ. Er verkroch sich flüchtend unter dem Bett der Eltern. Doch auch hier schlug der Vater auf ihn ein, der sich zusammenkauerte und nur jene Stellen seines Körpers den Schlägen bot, die am wenigsten schmerzen würden.
Nur nicht das Gesicht, nicht in das Gesicht!
Nicht die Augen, nicht die Augen!
Zusammengerollt wie im Bauch seiner Mutter ertrug er lautlos die blind geführten Schläge. Er hatte früh gelernt, keinen Schmerz zu zeigen, dem Quäler nicht den Triumph seines Schmerzes zu gewähren.
Warum brachen die Gerten nicht? Hatten sie kein Mitleid mit ihm? Kannten sie keine Gnade?
Die folgende Nacht verbrachte er schlaflos unter dem Bett seiner Mutter, mit Striemen bedeckt, an vielen Stellen blutend, ein Körper voll Schmerz und ohne Tränen.
Als er am nächsten Tag als Vorbereitung auf den Sechs-Uhr-Gottesdienst nach der Beichte die wegen seines Verstoßes gegen das 4. Gebot aufgetragenen fünf Vaterunser vor dem Kreuz in der Seitenkapelle beten sollte – er hatte in der Beichte nichts von seinem körperlichen Schmerz gezeigt, obwohl er kaum knien konnte – ließ er trotzig die Vaterunser sein und schaute nur in das Gesicht des Gekreuzigten über ihm. Und es schien ihm, als sagte der zu ihm, dass daran nichts Unrechtes wäre. Seine Sünden hätte er gestern gebüßt, so wie er für die der Menschen gebüßt hätte.
Irgendwann schlug er zurück – spät und ein einziges Mal. Ab diesem Tag wagte es sein Vater nicht mehr, die Hand gegen ihn zu erheben.
Gab es da in seiner Erinnerung nicht auch den großen Daumen seines Vaters, an dem er sich einmal an einem jener Tage, an denen ihn die Hand, an der auch dieser Daumen war, geschlagen hatte, beim Einschlafen festhielt? So als ob er dort Halt finden wollte. Halt bei seinem Quäler.
Ein Halten dieser schon lange nicht mehr zuschlagenden Hand seines Vaters war auch der letzte körperliche Kontakt, den er am mehrwöchigen Sterbebett seines Vaters hatte. Die Hand sah noch genau so fest aus wie damals, als sie ihn schlug. Die Augen des Vaters sagten: „Nimm meine Hand!“
Er hob die Hand seines Vaters und legte sie auf seinen Kopf.
Da war ein hilfloses Streicheln zu fühlen, ein Lächeln in den schon zerfallenden Augen.
Hatte er ihn im Sterben zum ersten Mal geliebt? War die sanfte Hand, die nun kraftlos auf seinem Kopf lag, die Entschuldigung für die Schläge?
Seine Bitte um Verzeihung vor seinem letzten Weg?

7
Sie verließ ihn am nächsten Morgen ohne Erklärung nach dreiunddreißig Ehejahren.

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